Sieg gegen den SC Paderborn:Leipzig erlebt einen historischen Moment

SC Paderborn 07 v RB Leipzig - Bundesliga

Leipzigs Konrad Laimer kämpft mit Sebastian Vasiliadis vom SC Paderborn um den Ball.

(Foto: Bongarts/Getty Images)
  • RB Leipzig erobert mit einem Sieg gegen den SC Paderborn zumindest für knapp 24 Stunden die Tabellenspitze der Bundesliga.
  • Der Tabellenletzte hat jetzt gegen alle vier deutschen Champions-League-Teilnehmer gespielt - und sich jedes Mal gut behauptet.
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Von Ulrich Hartmann, Paderborn

Auf der Haupttribüne im Paderborner Fußballstadion steht ein knallrotes Ledersofa, darauf könnte man herrlich liegen und einem Therapeuten sein Leid klagen. Doch das Sofa dient einem anderen Zweck. Bei jedem Heimspiel sitzen dort zwei Losgewinner und dürfen ganz gemütlich Bundesligafußball anschauen. Als der SC Paderborn nun gegen RB Leipzig nach 26 Minuten mit 0:3 zurücklag, da fiel der Blick der Sofasitzer auf ein 50 Meter langes Spruchband, das hinter dem Tor der malträtierten Paderborner Fußballer und hoch über den Köpfen der Paderborner Fans hing. Auf dem Banner stand: "Kein Star auf dem Feld, nie das große Geld, bleibst Du so das Schönste auf der Welt." Das war eine Liebeserklärung an jenen abgeschlagenen Tabellenletzten der Bundesliga, der trotz seiner Erfolglosigkeit eine seltsam wichtige Kontrollfunktion für die besten deutschen Mannschaften darstellt. Der SC Paderborn ist für die großen Teams der vielleicht wichtigste Charaktertest. Er ist sozusagen das rote Therapiesofa der Bundesliga.

Es ist nämlich so: Die Paderborner haben jetzt gegen alle vier deutschen Champions-League-Teilnehmer gespielt. Sie haben in Leverkusen mit 2:3 verloren, dann auch daheim gegen Bayern München 2:3, sie haben in Dortmund 3:3 gespielt und jetzt gegen Leipzig 2:3 verloren. Das sind für eine Mannschaft, die man beim Blick auf die Tabelle für einigermaßen chancenlos hält, ziemlich gute Ergebnisse.

Diese Ergebnisse haben zwei Gründe: Erstens nehmen die Champions-League-Mannschaften den Tabellenletzten zumindest phasenweise nicht hinreichend ernst, und zweitens spielt dieser Tabellenletzte gegen die Großkopferten zumindest phasenweise richtig guten Fußball. Die Leverkusener und die Münchner haben sie bis zum Schlusspfiff ins Schwitzen gebracht, neulich in Dortmund haben sie zur Pause 3:0 geführt, ehe die Borussen ernst machten und in letzter Minute noch zum 3:3 ausglichen, und jetzt gegen Leipzig lagen die Paderborner zwar nach 26 Minuten mit 0:3 hinten, kamen in der zweiten Halbzeit aber noch auf 2:3 heran und hätten um ein Haar auch noch den Ausgleich geschossen. Es sieht im Moment so aus, als sollten die Paderborner im kommenden Frühjahr mit einer Mischung aus Stolz und Wehmut wieder in die zweite Liga absteigen.

An just diesem Ort, im fußballerischen Nirgendwo von Ostwestfalen-Lippe, erlebten die Fußballer von RB Leipzig - mit allerhand Ausnahmekönner auf dem Feld und dem großen Geld - am späten Samstagnachmittag einen historischen Moment in ihrer noch jungen Vereinsgeschichte. Denn als das Spiel beim Stande von 3:2 abgepfiffen wurde, da waren sie nicht mehr nur erstmals ein Champions-League-Achtelfinalist wie nach dem 2:2 gegen Benfica Lissabon drei Tage zuvor, sondern sie waren für den Moment zusätzlich auch noch Tabellenführer der Bundesliga.

In solch einer günstigen Konstellation hatte man die Leipziger zuvor nie erlebt. Im Interview-Areal wollten routinierte Reporter die Unerfahrenheit des jungen Ersatztorwarts Yvon Mvogo gleich ausnutzen und prüften ihn mit der Frage, ob Leipzig jetzt nicht auch Meister werden könne. Doch der Schweizer parierte die Provokation wie einen Elfmeter: Er sagte grinsend wie zu einem Kind: "Ach, es ist doch noch viel zu früh, das zu sagen."

"Sie haben eine unfassbare Mentalität"

Eine Halbzeit lang hatten die Leipziger beeindruckend demonstriert, warum sie gegen Paderborn so viel souveräner agierten als Dortmund eine Woche zuvor: weil die Leipziger Defensivspieler nämlich viel schneller sind als die Dortmunder. Zusammen mit ihren Kollegen tranchierten sie den SC Paderborn wie eine Martinsgans, spielten nach der Pause aber seltsamerweise plötzlich so, als hätten sie zu viel Martinsgans gegessen. Nur deshalb kam Paderborn zurück, nur deshalb geriet Leipzigs Sieg noch einmal in Gefahr, aber dass ihnen dieser Sieg am Ende bleib, das war schon auch verdient.

Dem Trainer Julian Nagelsmann fehlte angesichts der finalen Spieldramatik ein bisschen der eigentlich angemessene Überschwang. Er führte den Einbruch seiner Mannschaft nach kraftraubenden englischen Wochen auf "geistige und körperliche Gründe" zurück, aber er wollte aus dieser misslungenen zweiten Halbzeit auch einen "Lerneffekt" ziehen, nämlich jenen, dass man streng so hätte weitermachen sollen wie in der ersten Halbzeit.

Aus Spielen gegen die unermüdlichen, unerschrockenen und trotzdem meistens halt unerfolgreichen Paderborner gehen Kontrahenten so gut wie nie gleichgültig wieder heraus. "Sie haben eine unfassbare Mentalität", lobte Leipzigs Sportdirektor Markus Krösche, der bis zum Sommer in Paderborn gearbeitet hatte. "Mentalität, Einstellung und Ehrgeiz sind der Wahnsinn", sagte aber auch sein Nachfolger in Paderborn, Martin Przondziono. Der Tabellenletzte liegt in Mentalitätsdingen ganz weit vorne. Diese Erkenntnis nehmen die fußballerisch besten Klubs aus ihrem Anschauungsunterricht in Ostwestfalen stets mit heim.

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