Die Vorbereitungen des Trainers Ralf Rangnick auf das nächste Spiel, das sicherlich aufregendste in der jungen Firmengeschichte von RB Leipzig, begann sofort - geradezu unverzüglich. Nicht, dass hinterher diese eine Minute fehlt. Um sie herum taumelte soeben ganz Bremen zu den Klängen der uralten Werder-Hymne (Vorlage ist das Weserbogen-Lied aus Ostwestfalen-Lippe) aus der Saison, als sich Rangnick den jungen Matheus Cunha vorknöpfte. Rangnick, 60, packte den Mittelstürmer, 19, an den Schultern, man sah von weitem dessen jugendliches fragendes Gesicht und den gestikulierenden Trainer, während drumherum die "Weser einen großen Booogen" machte. Was auch immer da nach dem unbedeutenden 1:2 von RB Leipzig bei Werder Bremen besprochen wurde: Rangnick überlässt nichts dem Zufall, auch wenn es zufällig mal um nichts ging.
Am Samstag treten die Leipziger im Berliner Olympiastadion an, um den ersten Titel zu gewinnen seit der Vereinsgründung am 19. Mai 2009, also vor exakt zehn Jahren. Seitdem ist die Mannschaft in der Nachfolge des SSV Markranstädt von der fünften in die erste Liga durchgerauscht, gerade zum zweiten Mal in die Champions League gestürmt und eben ins Pokalfinale gegen den FC Bayern München gekommen. Es wäre großartig, hat Ralf Rangnick gesagt, wenn wir "jetzt schon unseren ersten Titel gewinnen würden".
"Jetzt schon", "unseren ersten": Leipzig hat noch was vor, gerne auch Großes, das ahnt die hiesige Fußball-Welt schon länger. Gerade im Kontrast zu den bisweilen rührseligen Bremern fällt die chirurgische Präzision von RB Leipzig auf, mit der dort jeder Schritt, jeder Erfolg, jede Entwicklung, jeder Spieler und jede Partie geplant werden. Die Bremer haben gerade beschlossen, den peruanischen Senior-Señor Claudio Pizarro auch noch über dessen 41. Lebenjahr hinaus als Fußball-Profi zu beschäftigen - einfach, weil sie es wollen. Mal abgesehen davon, dass Pizarro immer noch zu den besten Jokern der Liga gehört, seinen Teilzeitjob klaglos akzeptiert und die jungen Spieler "mit seinem Spaß ansteckt", wie Maximilian Eggestein sagte: In der Verbindung zwischen Pizarro und dem Bremer Publikum liegt auch eines der Geheimnisse des Fußballs. Weil es immer noch Nischen für Emotionen, Gefühle, Pathos, Kitsch, sogar: Liebe gibt, funktioniert dieses teilentmenschlichte Geschäft überhaupt noch. Hoeneß beweint Robbery, Friedhelm Funkel gibt den Mario Adorf der Bundesliga, Claudio Pizarro spielt seit 1999 einfach immer weiter: Ohne solche Narrative hätten sich die Fans montags weniger zu erzählen. Diese Geschichten passieren aus den Unwägbarkeiten des Sports heraus, so lange er sich einen Rest Unberechenbarkeit und Unvernunft erlaubt.
Aber: Erfolgversprechender ist der Leipziger Weg. Aus dem Nordost-Oberligisten von einst ist eine Spitzenelf geworden, eine gestresste. Ralf Rangnick hatte sich eigens ein paar Zahlen zurecht gelegt für die Pressekonferenz nach der knappen Niederlage gegen Bremen, die durch ein spätes Tor von, tja, Pizarro zustande gekommen war. "Wir haben das 51. Pflichtspiel gemacht in den letzten zehn Monaten, zwei mehr als die so hoch belasteten Frankfurter", referierte Rangnick auf seine gewohnt herzliche Art, daneben leite er den Kader an "mit den meisten Länderspielabstellungen". Deshalb habe er vor dem 52. Saisonspiel - dem entscheidenden um den DFB-Pokal am Samstag gegen Bayern, einigen seiner Spieler "eine schöpferische Pause" und "Erholung" verordnet. In der Praxis bedeutete das zehn Wechsel in der Startelf. Dass eine Mannschaft vorm Saisonhöhepunkt gerne im Rhythmus bleibt, scheint eine im Leipziger Forschungsinstitut als Falschannahme widerlegte Behauptung zu sein.
Dass seine B-Elf dabei "aus elf Nationalspielern" bestand, zeigte laut Rangnick aber nur, dass es gar keine B-Elf war. Tief und klug haben die Leipziger ihren Kader organisiert, überall ist Zukunft, wo andernorts an solchen Tagen unter Tränen scheidende Vergangenheit eingewechselt wird.
Die blutjunge RB-Mannschaft, die sich "für Berlin empfehlen durfte", wie Rangnick bluffte, hätte in Bremen keinesfalls verlieren müssen, auch wenn Stars wie Timo Werner, Torwart Peter Gulacsi oder Imbrahima Konate gar nicht erst mitgefahren waren. Der Führungstreffer in der zähen ersten Halbzeit kam durch einen Elfmeter für die Bremer zustande (35. Minute), dessen dazugehöriges Foul nur der Videoassistent erkannt hatte. Nach der Pause verpasste per verschossenem Hand-Elfmeter Bruma den Ausgleich (54.), den dann Mukiele schaffte (86.).
So kam Pizarros Auftritt noch besser zur Geltung. Ein Blick, eine Drehung, ein Schuss, ein Tor, zwei Minuten vor Schluss das 2:1. "Eine Legende" sei Pizarro, stellte auch Ralf Rangnick fest. Sein Verein verpflichtet nur Spieler unter 24. Das ist, zweifellos, sehr vernünftig.