Raúls Abschied:Stets auf der Lauer

Eine Klub-Ikone ist Raúl bei Real Madrid. Auf Schalke genoss er das normale Fußball-Leben. Adios sagt er in einem Spiel für Cosmos New York.

Von JAVIER CÁCERES

Am Morgen nach einer Flugreise von Karlsruhe in die spanische Hauptstadt, die reich war an Turbulenzen und daher auch an Stoßgebeten, drückte Jorge Valdano, damals Trainer von Real Madrid, in der Sportstadt des spanischen Rekordmeisters die Tür zu seinem Büro auf und blickte seinem Assistenten Ángel Cappa ins Gesicht. "Wir haben uns, glaube ich, nicht mal gegrüßt", erinnert sich Cappa, "sondern uns nur über das Wesentliche ausgetauscht. ,Muss er spielen?', fragte ich, und Jorge sagte: 'Ja, das muss er'."

Gut 21 Jahre ist das her, und der Mann, von dem damals die Rede war zwischen Valdano und Cappa, war ein seinerzeit bartloser, 17 Jahre alter Jüngling namens Raúl González Blanco. Beim Freundschaftsspiel in Karlsruhe hatte Raúl 30 Minuten lang gespielt und sein erstes Tor für Reals erste Mannschaft erzielt. Ein paar Tage später stand Raúl in Madrids Startelf in Saragossa, es war sein Erstligadebüt.

Er scheine einer dieser Spieler zu sein, "die der Normalität einen Meter und eine Sekunde voraus sind", mutmaßte die Zeitung El País anderntags, und sie sollte Recht behalten. Denn Raúl begründete eine grandiose Karriere, die an diesem Wochenende enden wird - mit dem Finale der North American Soccer League (NASL) in den USA, das weniger seinen, als den welken Ruhm von Cosmos New York auffrischen dürfte. "Es ist ein Traum, meine Laufbahn mit einem Endspiel für Cosmos zu beenden", sagt Raúl, als hätte er nicht weit gewichtigere Trophäen gewogen, darunter sechs spanische Meisterschafts-Pokale, drei Champions-League-Pötte, zwei Weltpokale und einen DFB-Pokal.

Teamkollege Metzelder überredetet ihn zum Wechsel aus Madrid ins Revier

Dass Raúl, 38, Vater von fünf Kindern, das Berliner DFB-Pokal-Finale von 2011 bestreiten und 5:0 gegen den MSV Duisburg gewinnen konnte, war seinem frappierenden Wechsel von Real Madrid zum FC Schalke 04 geschuldet. "Für mich bleibt es einer der größten Transfers der Bundesliga-Geschichte. Denn Raúl war gar nicht auf dem Markt, und keiner erfuhr etwas, bis er plötzlich bei Schalke in der Kabine saß", sagt der frühere deutsche Nationalspieler Christoph Metzelder, der von 2007 bis 2010 mit Raúl bei Real gespielt hatte - und entscheidend an Raúls Wechsel nach Deutschland beteiligt war.

Im Zuge seines eigenen Wechsels zu Schalke war Metzelder von Felix Magath, dem damaligen Trainer, gefragt worden, ob ihm ein Ersatz für Kevin Kuranyi einfallen würde, der nach Russland umzog. "Ich sagte Magath, dass Raúl bei uns unzufrieden war, er kam ja nur noch auf 30-Minuten-Einsätze. 'Frag ihn doch mal, ob er sich das vorstellen kann', sagte Magath, und das habe ich dann beim Training auch gemacht." Was Metzelder kaum ahnte: Welchen Prozess er bei Raúl auslöste, der noch von Stimmung und Stadien der WM 2006 in Deutschland angefixt war: "Nach Saisonende fuhren wir mit Magath nach Madrid und stellten zu unserer Überraschung fest, dass Raúl, der Weltstar, sich nicht nur mit Schalke auseinandergesetzt hatte. Er hatte bereits geschaut, wo er wohnen und in welchem Verein seine Kinder Fußball spielen könnten", sagt Metzelder. Die Wahl fiel auf Düsseldorf, wo Raúl, der in Madrid bedrängt und verehrt worden war wie eine Legende, leben konnte wie nie zuvor. "Dass er mal auf dem Fahrrad um die Ecke zum Friseur fahren konnte, war für ihn das Größte", sagt Metzelder.

Und so kam Schalke zu einem Spieler, der vom ersten Pflichtspiel als Real-Profi an ein besonderes Parfum verströmte. Obwohl auch er, der in den Rang einer Klub-Ikone wie Di Stéfano, Juanito, Butragueño oder Casillas gelangte, fast übersehen worden wäre: Der damalige Trainer der zweiten Mannschaft und heutige Chefcoach von Real Madrid, Rafael Benitez, musste von Valdano und Cappa unter Hinweis auf die Hierarchie gezwungen werden, den damals 17-Jährigen in seinem B-Team zu testen. Jenen Raúl, der später die Generation anführte, die unter Trainer Jupp Heynckes den verblassten Ruhm Reals wieder aufpolierte. 31 lange Jahre nach dem sechsten Europapokal-Triumph holte Real Madrid den Champions-League-Titel.

"Ich habe nie einen Spieler gesehen, der schon als Bub mit einer solchen Selbstverständlichkeit von sich selbst überzeugt war wie Raúl", sagt Cappa: "Er war nie der Schnellste, der beste Dribbler oder der beste Kopfballspieler. Aber in der Summe beherrschte er diese Facetten besser als alle anderen, und deshalb war er meist der Beste auf dem Platz." Raúl, so sagte es Valdano einmal, war "ein Tier, das stets auf der Lauer war" und im Angesicht gegnerischer Teams von nur einer Frage besessen zu sein schien: "Was kann ich machen, um Euch das Leben zu ruinieren?"

Nachdem Raúl 2012 zu SC Al-Sadd weitergezogen war, wohnte Metzelder einmal Gala-Spielen des katarischen Teams auf Schalke und in Madrid bei, und er stellte fest, dass sich Raúl seinen irrationalen Siegeswillen in der Wüste bewahrt hatte. So absurd die Aussicht auf einen Triumph gegen Real auch war: "Er wollte gewinnen. In jedem verdammten Spiel." Am Ende waren es mehr als 900 Partien in vier Ligen; allein für Real erzielte er 323 Pflichtspieltore, nur Cristiano Ronaldo traf häufiger.

Als das Nationalteam von 2008 bis 2012 die große Zeit erlebte, war Raúl nicht dabei

Die Kindheit verbrachte er in San Cristóbal de Los Ángeles, einem proletarischen Kiez im Süden Madrids. Auch wegen seiner Herkunft gilt Raúl als Self-made-Held mit meist strengem Arbeitsethos. Der einzige Stachel, der Raúl sportlich schmerzt, ist, dass er als 105-maliger Nationalspieler ausgemustert wurde, als die Spanier ihre goldene Zeit erlebten, als sie zwischen 2008 und 2012 eine Weltmeisterschaft und zwei Europameisterschaften gewannen. Egal, findet Cappa: "Di Stéfano, George Best oder Johan Cruyff haben auch keine Nationalmannschaftstitel."

Und nun? Will Raúl erst mal in den USA bleiben. Seine Beziehungen zu Real Madrid und dessen Boss Florentino Pérez haben sich nach dem schmerzvollen Abschied 2010 wieder entspannt, so dass sich Valdanos Traum vielleicht doch erfüllt, Raúl einmal als Trainer im Bernabéu-Stadion zu sehen. Als Reals Guardiola, sozusagen. Das habe aber Zeit, findet Raúl: "Ich will Vater sein und Mensch; ich fühle mich noch nicht als Trainer." Doch er weiß: "Der Tag wird kommen, an dem ich das hier vermissen werde."

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