Fußball in Italien:Rangnick zerreißt die Gemüter in Mailand

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Ralf Rangnick: Gesprächssthema in Mailand

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Kommt er? Kommt er nicht? Der sportlich ergraute AC Milan denkt über Ralf Rangnick nach - emotional und kontrovers.

Von Oliver Meiler, Rom

Neulich trug sich im Palazzo Marino, dem Mailänder Rathaus, eine Sitzung zu, die man in gewöhnlichen Zeiten für normal halten könnte. Nun aber wirkte sie unerhört leichtfüßig - gewissermaßen wie eine falsche Note aus der Zukunft, so sehr man sie auch hören mag.

Die großen Fußballklubs der Stadt, die Associazione Calcio Milan und der FC Internazionale, beide in ausländischen Händen, legten ihre Projekte für ein neues, topmodernes Stadion im Stadtteil San Siro vor, 65 000 Plätze. In den Simulationen sehen beide Vorschläge toll aus: "La Cattedrale" vom Studio Popoulus erinnert tatsächlich an eine Kathedrale, was einigermaßen kurios ist; denn das alte Meazza-Stadion hat sich ja eher als "Scala des Fußballs" eingebürgert, als Bühne für Tenöre, auf der allerdings oft Schreihälse auftraten. Das alternative Modell "Anelli di Milano" vom Architekturbüro Manica Sportium heißt so, weil seine Arena aus zwei figurativen Ringen besteht, die sich elegant verschränken.

Im Sommer wird entschieden, 2024 soll es fertig sein. 2026 würde die Arena dann wohl die Eröffnungszeremonie der Olympischen Winterspiele beherbergen. Und weil die Stadt verlangt hat, dass Teile des alten Stadions gleich nebenan aus Respekt für dessen kulturelle Bedeutung erhalten bleiben, wird daraus ein Großvorhaben für etwa 1,2 Milliarden Euro - ein urbanistischer Eingriff. Populous würde die Rampen zum zweiten Tribünenrang hinüberretten wollen, die Konkurrenz ließe auch noch einen der vier charakteristischen Ecktürme stehen. Die gesamte Anlage soll, wenn sie transformiert wäre, der Vergnügung der Mailänder dienen, mit Laufbahnen, Fahrradpisten, Fitnesszentren, einem Park für Skater, Bolzplätzen für Calcetto (Fünf gegen Fünf), das meiste gratis. Dazu Läden, ein Konsumtempel, ein Fußballmuseum, Kinos - Orte, die gerade geschlossen sind. Sehnsuchtsorte für Zukunftsträume.

Nur einige hundert Meter von der hoffnungsfrohen Baustelle entfernt, auf dem alten Messegelände Portello, liegen noch Patienten auf der Intensivstation eines Feldhospitals - angeschlossen an Beatmungsgeräte. Corona und Calcio, es ist ein schwieriges Duo.

Seitenlang wird Milans Zukunft verhandelt

Und doch passte dieser Termin im Palazzo Marino gut zu Mailand. Die Stadt hat immer Zukunft im Sinn, sie ist das wahre Zentrum Italiens, seine Fabrik für Design, Medien und Mode, der Hub der Banken und großen Konzerne, so etwas wie der Maschinenraum des Landes. Man nennt Mailand auch "Capitale morale", moralische Hauptstadt, und sollte damit Moral im engen Sinn gemeint sein, dann sind da natürlich einige Zweifel angebracht. Doch das ist eine andere Geschichte. Dass Corona ausgerechnet Mailand und seine Umgebung, die immerzu effiziente und fortschrittliche Lombardei, so hart traf, wird vielleicht ein Rätsel bleiben. Dass Mailand als erste Stadt an die Zukunft denkt, ist hingegen nicht verwunderlich. Das Modell mit den verschränkten Ringen passt wohl besser.

In der Gazzetta dello Sport, Mailands Sportzeitung, verhandeln sie seit Wochen das Theater um die Zukunft des AC Milan - seitenlang, mit Analysen und Interviews aller Größen der Vergangenheit. Noch ist nicht klar, ob die Serie-A-Saison weitergeht, aber in den Köpfen der Milanisti ist sie ohnehin abgehakt - als Nullnummer: Platz sieben, zwölf Punkte hinter dem Vierten Atalanta Bergamo, also wieder keine Champions League, wie in den sieben vergangenen Jahren. Meister wurde Milan schon seit neun Jahren nicht mehr.

Auch im Verein geht es also um Morgen: Kommt er, kommt er nicht? Passt er hierher, oder passt er nicht? Man ist nicht weit weg vom Sein oder Nichtsein. Und das alles wegen Ralf Rangnick, dem deutschen Fußballboss von Red Bull: "Er ist nicht da, aber es ist, als wäre er da", schreibt die Gazzetta . Rangnick geistert herum - als möglicher neuer Milan-Trainer, ab Sommer vielleicht. In der Zwischenzeit beherrscht er die Debatten, zerreißt die Gemüter.

(200303) -- BEIJING, March 3, 2020 -- A fan of AC Milan walks outside the San Siro stadium after a Serie A soccer match; Milan

Triste Zeiten: Ein Milan-Fan vor dem San-Siro-Stadion, das durch eine neue Arena ersetzt werden soll.

(Foto: imago images/Xinhua)

Die Aufregung um Rangnick hat einen langen Vorlauf, und wenn der Kontext nun auch etwas weit gezogen sein scheint für die Personalie: Er beginnt mit einem Epochenwechsel in der Stadt, einer Art Zäsur.

Immer wieder wechselte der Besitzer

Mailand war nämlich auch mal eine Kapitale des Fußballs. Früher, als Milan noch Silvio Berlusconi gehörte und Inter dem Erdölindustriellen Massimo Moratti, verschmolzen die Vereine mit der Stadt in einer fast esoterischen Symbiose: Familienkapitalismus und Fußball, zuweilen von richtiger Politik durchsetzt - das war schon sehr unterhaltsam, im Nachhinein wenigstens. Und wenn man herumschaut, wer in manchen großen Vereinen Europas heute befiehlt - Oligarchen, Emirate, Fonds ohne Grund und Boden - dann sind Leute wie der dauerrauchende Moratti eine nostalgische Träne wert, sogar Berlusconi mit allen seinen Macken.

Als sie es leid waren, für die Gunst der Plebs jedes Jahr Dutzende Millionen Euro in ihre Klubs zu pumpen, ohne Aussicht auf Rendite, verkauften sie an Investoren aus Fernost. Inter ging für eine Weile an einen indonesischen Unternehmer, bevor der chinesische Elektronikkonzern Suning übernahm. Auch Milan fand nach 31 Jahren Berlusconi einen chinesischen Käufer, wobei: Die Transaktion war derart mysteriös, dass man sich zuweilen fragte, ob es den Käufer überhaupt gibt. Seitdem ist der Konditional zur üblichen Unterhaltungsform geworden bei Milan, zur Begleitmelodie des Niedergangs. Und wenn man die verflossene Glorie noch einmal vorbeiziehen lässt, dann ist der Jammer groß.

Li Yonghong, so hieß der sagenumwobene Chinese, gab sich als Besitzer einer Phosphat-Mine aus, sehr vermögend. In China kannte ihn keiner. Aber das störte in Mailand niemanden, schon gar nicht Berlusconi. Ihn kümmerte nur der Preis, offenbar einigte man sich auf 740 Millionen Euro. Li zahlte mit Mühe in Tranchen, und wie man noch erfahren sollte: auf Pump. Später gab es auch mal Bilder aus Li's Büro: viel Staub, leere Tische, ein umgestoßener Eimer.

Sportlich ging fast gar nichts

Doch 2017, nach einem Drama in tausend Episoden, gehörte Milan tatsächlich Herrn Li, der, als er wahrhaftig in Erscheinung trat, immer irgendwie traurig dreinschaute, und das war kein Wunder. Die Geldgeber im Hintergrund pochten auf üppige Zinsen. Bald war klar, dass Herr Li seine Schulden nicht bedienen konnte, und so fiel Milan an die New Yorker Elliott Management, einen internationalen Hedgefonds. Mit Fußball haben solche Fonds wenig am Hut, sie wetten am Liebsten auf Pleiten, Staats- und Firmenpleiten.

Als Geschäftsführer holte Elliott Ivan Gazidis, einen südafrikanischen Sportmanager mit griechischen Wurzeln, der davor den FC Arsenal geführt hatte - einen von außen also. Im italienischen Fußball mag man Leute von außen nicht so gern, und man lässt sie es schnell spüren. Die Italiener räumen selbst gern ein, dass ihre Fußballwelt und -kultur eine besonders komplizierte ist: ein Tollhaus voller Clowns und Egomanen in den Vereinsspitzen. Gazidis sollte Milan sehr schnell zurück zum Erfolg bringen, nicht um der Trophäen willen, sondern weil Elliott den Verein möglichst rasch und gewinnbringend verkaufen möchte. Heuschrecken sind keine Mäzene, sie fleddern ihre Beute.

Zwei Jahre ist das her. Sportlich ging seither fast gar nichts, obwohl Unsummen in Transfers investiert wurden. Im Winter holte Milan nun Zlatan Ibrahimovic, den alten Bekannten, der hatte davor unter der kalifornischen Sonne gekickt, bei LA Galaxy - nicht eben die beste Vorbereitung für eine schnelle Liga. König Ibra ist 38, seine Verpflichtung wirkte verzweifelt, alles auf eine Karte. Ein Jahr davor hatte Gazidis sich noch geweigert, wegen des Alters. Der Schwede brachte etwas Gravitas ins Spiel, seine bare Präsenz schüchtert Gegner ein. Aber das reicht nicht. Und Zukunft ist mit Zlatan Ibrahimovic auch nicht zu haben.

Rangnick war im Herbst schon ein Thema

Und hier kommt Rangnick ins Spiel. Eigentlich ist er schon seit dem vergangenen Herbst ein Thema. Damals entließ Milan seinen erst kurz davor eingesetzten Trainer Marco Giampaolo. Der war noch erfolgloser als seine Vorgänger und verstand sich nicht mit den Spielern. Gazidis kontaktierte also Rangnick, von dem er viel hält. Rangnick war offenbar angetan: ein Traditionsverein, großer Name, noch größere Verbesserungsmarge. Und da er den früheren Milan-Trainer Arrigo Sacchi schon immer verehrt hat, schien die Sache das Zeug zur Fügung zu haben. Doch Milan brauchte sofort Ersatz - und holte erst einmal Stefano Pioli, einen Trainer der mittleren Güteklasse und Spielerversteher.

Der Fall Rangnick hätte eigentlich nie publik werden müssen, Kontakte gibt es schließlich ständig. Das Problem war, dass Gazidis den Rest der Führungsriege nicht eingeweiht hatte in seine Pläne. Das ärgerte vor allem zwei Männer, die von Amtes wegen partout konsultiert werden müssen - und auch noch Spielerlegenden sind: Paolo Maldini, Milans dämmerfreies Idol und Sportdirektor, und der Kroate Zvonimir Boban, früher lange Jahre im Mailänder Mittelfeld, heute sogenannter Chief Football Officer. Elliott hatte die beiden geholt, damit etwas Seele im Klub bleibt, wenn er zum Konzern umgebaut wird. "Il Milan dei Milanisti", hieß der Slogan, "Das Milan der Milanisti". Ein gescheiter Zug, doch mehr als Fahnenträger sollten die alten Granden offenbar dann doch nicht sein.

Auch nach Piolis Ankunft klang das Thema Rangnick nicht ab, er selbst sendete ab und zu Signale. In Italien las man, Rangnick wolle alle Macht, ihm schwebe die Rolle eines Teammanagers nach englischem Muster vor: für alles letztinstanzlich zuständig. Der Corriere della Sera nannte ihn den "deutschen Propheten", und es war nicht klar, ob da Ironie mitschwang.

Rangnick steht auch für Expertise

Bis es Boban zu bunt wurde. In einem Interview nannte er die nicht abgesprochenen Verhandlungen mit Rangnick "respektlos und unelegant". Dummerweise war auch das Interview nicht abgesprochen mit dem Verein, Boban wurde entlassen. Vor einigen Tagen meldete sich dann Maldini - bei der Nachrichtenagentur Ansa, als stünden geopolitische Gleichgewichte auf dem Spiel. Er habe nie mit Rangnick gesprochen, sagte er: "Bevor er Italienisch lernt, rate ich ihm, Respekt zu lernen."

Kommt er also, kommt er nicht? Kommt Rangnick, so viel scheint klar, dann geht nach Boban auch Maldini. Und Ibrahimovic. In Mailand würden sie sagen: die ganze Seele. Aber Rangnick steht auch für Expertise - für Erfolge durch eine Transferpolitik mit jungen Juwelen statt alter Stars. Wäre was Neues für Milan. Die Gazzetta ruft allen Präventivkritikern zu: "Wer weiß, vielleicht ist Rangnick mit 61 ja der Sacchi des dritten Jahrtausends."

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