Lang überlegen muss Reiner Maurer nicht, als sein Handy am Freitag vor etwa vier Wochen klingelt und Jiayi Shao ihn fragt, ob er sein Co-Trainer in China werden wolle. Schon am Samstag sagt Maurer seinem ehemaligen Spieler zu, am Montag fliegt er nach Qingdao und wenige Tage später sitzt Maurer erstmals bei seinem neuen Club Qingdao West Coast FC als Co-Trainer auf der Bank. „Das kam schon alles sehr überraschend“, sagt Maurer am Telefon. „Aber es hat mich von Anfang an fasziniert und begeistert.“
Maurer, 64, früherer Bundesligaprofi unter anderem für den FC Bayern, 1860 München und den VfB Stuttgart, war nach seiner Spielerkarriere jahrelang Trainer im bayerischen Profifußball: Unterhaching, Augsburg, Türkgücü München – und immer wieder bei den Löwen, erst als Co-Trainer, später dann zweimal als Cheftrainer, zuletzt von 2010 bis 2012. Bei seiner ersten Station bei 1860 spielte ein gewisser Jiayi Shao als einer der ersten Chinesen der Bundesliga bei den Löwen, die damaligen Verantwortlichen übersetzten nach dem Wechsel sogar extra ihre Webseite auf Chinesisch. Der groß gewachsene Mittelfeldspieler Shao wurde in seinen fünf Jahren bei 1860 zum Publikumsliebling, bis heute ist er chinesischer Rekordspieler der Bundesliga – und hat nun, nach seiner Karriere, die erste Station als Trainer begonnen, bei Qingdao West Coast in Chinas erster Liga, mit Maurer als Assistent.
Zu ihm brach nach Shaos Karriere der Kontakt nie ab, Shao reiste öfter nach Europa, bildete sich bei Spitzenvereinen wie Chelsea weiter – und traf sich gelegentlich mit Maurer in München, wo auch die Töchter von Shao studieren sollen. „Wir haben schon ein freundschaftliches Verhältnis, das sich über die Jahre immer weiterentwickelt hat“, sagt Maurer über Shao, den er nun vor allem mit seiner Erfahrung unterstützen soll: Der gebürtige Mindelheimer saß bei 118 Spielen der zweiten Liga auf der Bank, dazu beim FC Augsburg ein Jahr lang als Co-Trainer in der Bundesliga – und er coachte für deutsche Trainer eher exotische Teams, etwa den AS Rhodos und Ofi Kreta in Griechenland oder den Anthong FC, einen Klub aus Thailands zweiter Liga.
Und nun also China, Qingdao, eine Sechs-Millionen-Stadt an der chinesischen Ostküste, die im Kaiserreich für einige Jahre deutsche Kolonialstadt war und in der die zweitgrößte Brauerei Chinas sitzt. Ein Tsingtao-Bier, dass nach bayerischem Reinheitsgebot gebraut wird, hat Maurer aber bisher noch nicht getrunken. „Ich lebe hier in erster Linie für den Fußball“, sagt Maurer. Sein Klub liegt auf dem zweitletzten Platz der chinesischen Superleague, Shao und Maurer sollen ihn vor dem Abstieg bewahren. Der Start unter dem neuen Trainergespann verlief gut: Zwei Unentschieden und einen Sieg holte Qingdao in den letzten vier Wochen, nun bereitet sich das Team in einem Trainingslager auf die sechs ausstehenden Spiele vor. „Trotz der sportlichen Situation ist die Stimmung super“, sagt Maurer.
„Ich kenne es ja selbst bei 1860: Als Cheftrainer fliegt einem da schnell sehr viel um die Ohren“, sagt Maurer
Im Trainerteam ist Maurer vor allem für die Trainingsgestaltung zuständig, feilt an der Taktik, analysiert vergangene Spiele und kommende Gegner. Als junger Mann Ende der 90er-Jahre fasste Maurer, der mal für den SAP-Vorgänger Nixdorf Computer als Organisationsberater arbeitete, so auch im Trainergeschäft Fuß. Er ist der erste deutsche Trainer, der computergestützte Videoanalysen machte, unter anderem für den Deutschen Fußball-Bund und für den damaligen Leverkusen-Trainer und kürzlich verstorbenen Fußball-Vordenker Christoph Daum. „Man kann, glaube ich, sagen, dass ich der erste Laptop-Trainer Deutschlands war“, sagt Maurer.
Neben Analysen und der Trainingsgestaltung ist Maurer auch bei wichtigen Entscheidungen eingebunden, kommuniziert viel mit Cheftrainer Shao, der gut Deutsch spricht. Dolmetscher sind trotzdem immer dabei, die meisten Spieler sind Chinesen, der Athletiktrainer ist Japaner und einige Spieler kommen aus Südamerika. Die chinesische Liga erlaubt nur noch fünf ausländische Spieler im Kader, eine Reaktion des Verbandes auf den Kaufrausch der Klubs vor einigen Jahren, als viele Spieler aus europäischen Topligen nach China wechselten. Die neue Strategie soll nun die nationalen Spieler fördern, immerhin will China unter Staatspräsident und Fußballfan Xi Jinping bis 2050 zu der erweiterten Weltspitze gehören, wie in einem Fußball-Plan 2015 festgelegt wurde.
Derzeit läuft das noch schleppend, auch weil die Strukturen im Einzelsportland China im Fußball noch nicht auf dem Stand der Topnationen im Fußball sind. Das Niveau der Liga ist laut Maurer aber nicht schlecht, wenn auch schwächer als vor einigen Jahren, als unter anderem Sandro Wagner bei Tianjin Jinmen Tiger spielte oder der Brasilianer Hulk bei Shanghai Port. „Taktisch ist bei uns sicher einiges verbesserungswürdig, das Niveau ist in der Spitze aber sicher höher als in der deutschen dritten Liga“, sagt Maurer.
Dritte Liga – da spielt der TSV 1860 München, bei dem Maurer insgesamt elf Jahre arbeitete, und der gerade ähnlich wie Maurers neuer Klub in einer sportlich schwierigen Lage steckt, bislang alle drei Ligaspiele verlor. Maurer verfolgt seinen alten Klub so halb, schaut sich nur die Ergebnisse an – Ferndiagnosen würden sich aber sowieso verbieten. „Da muss auch nicht jeder noch kritische Töne dazugeben“, sagt Maurer. „Ich kenne es ja selbst bei 1860: Als Cheftrainer fliegt einem da schnell sehr viel um die Ohren.“
Derartige Probleme hat Maurer in China nicht, die Fußball-Presse ist dort weniger scharf, die Gemengelage im Verein eine andere. Persönlicher Druck ist aber da: Maurers Vertrag in Qingdao läuft bis Saisonende Anfang November, bei Klassenverbleib verlängert er sich automatisch um ein Jahr. „Ich würde schon gern bleiben, weil ich mich wohlfühle und es mir hier sehr gut geht – sogar besser als erhofft“, sagt Maurer, dessen Lebensgefährtin bald nach Qingdao nachreist. Und falls doch mal Heimweh aufkommen sollte, hat Maurer vorgesorgt: In Chinas Bierstadt hat er sich schon einige Flaschen bayrisches Weißbier besorgt.