Radsport-WM:Polizist mit Perspektiven

Radprofi Tony Martin, 23, gilt beim Zeitfahren der Weltmeisterschaft am Donnerstagnachmittag als Medaillentipp.

Andreas Burkert

In einem Kreisverkehr am Ortseingang von Varese hat sich Tony Martin am Vormittag plötzlich seiner Berufsausbildung erinnert. Ein italienischer Kleinwagen hatte dem deutschen Radprofi die Vorfahrt genommen, den Zusammenstoß überstand Martin unversehrt, ganz im Gegensatz zur Zeitfahrmaschine. "Die Italiener fahren ja eher wild", sagt Martin nachmittags auf einer Terrasse neben dem funkelnden Lago di Varese. Er habe dann aber alles mit Ruhe geregelt, "Unfallaufnahme habe ich ja gelernt". Tony Martin, 23, ist Polizeimeister.

Radsport-WM: Talent und Medaillenhoffnung: Tony Martin.

Talent und Medaillenhoffnung: Tony Martin.

(Foto: Foto: dpa)

Erst diesen Januar hat der junge Mann aus Eschborn bei Frankfurt seine auf vier Jahre gestreckte Ausbildung abgeschlossen, seitdem ist er freigestellt und erstmals im Peloton unterwegs. Experten ist er rasch ein Begriff geworden, dem breiteren Publikum möchte er sich diesen Donnerstag beim 43,7 Kilometer langen Einzelzeitfahren (ab 13 Uhr) bei der Straßenrad-WM in Varese vorstellen. Denn Neoprofi Martin gilt hinter dem Vuelta-Zweiten Levi Leipheimer (USA) als Medaillentipp neben dem zweiten deutschen Starter, Bert Grabsch aus Wittenberg. Tony Martin sagt vorsichtig: "Na ja, ehrlich gesagt liegt mir die Strecke."

Vier Saisonerfolge hat er in seinem Debütjahr bisher eingefahren fürs Team Columbia, zuletzt gewann er das Zeitfahren der Deutschland-Tour in Bremen. Im stürmischen Regen glänzte er dort, erst später besserten sich die Bedingungen. "Dass er das dort so durchgezogen hat, bei einem Wetter, wo andere auf der Rampe sagen: ,Der Tag ist für mich gelaufen‘ - das hat wirklich imponiert", sagt Columbias Sportchef Jan Schaffrath, der in Varese für den Verband tätig ist.

Schon beim Giro weit vorne

Wie gut Martin einmal werde, wagt bislang niemand zu sagen, auch Schaffrath ist zurückhaltend. "Das zweite Jahr wird schwerer", meint er, "aber ein Rundfahrer ist Tony jetzt schon - so etwas wie Tirreno-Adriatco traue ich ihm mittelfristig zu". Das prestigeträchtige Etappenrennen durch Italiens Frühling erwähnt auch Martin, "oder Paris - Nizza, da möchte ich demnächst mal vorne mitfahren". Bisher hat man ihn vor allem als Zeitfahr-Spezialisten registriert, beim Giro d'Italia belegte er Rang zwei. Es ist seine erste dreiwöchige Rundfahrt gewesen. Martin hielt bis Mailand durch. Seine Kraftwerte seien erstaunlich, heißt es, "er kommt mittlerweile auch in den steilen Bergen richtig gut mit", sagt (der zurzeit erkrankte) Deutschlandtour-Sieger Linus Gerdemann über den Teamkollegen. "Aus dem wird mal richtig was."

"In fünf, sechs Jahren" wolle er bei der Tour de France auf Gesamtwertung fahren, sagt Tony Martin zu seinen Perspektiven. Denn er habe natürlich "damals den Hype mitbekommen" um Jan Ullrich, den gefallenen Helden vergangener Tour-Sommer. Dass Ullrichs Leistungen heute anders bewertet werden, ist ihm bekannt. Doch auch die Rückkehr Lance Armstrongs (Meldung rechts), ebenso ein Darsteller einer trüben Vergangenheit seines Sports, möchte er nicht offensiv beklagen. "Da bin ich ehrlich: Das sind Ikonen, und das kriegst du einfach nicht so schnell aus deinem Kopf raus."

Ein Drittel der Zukunft

Fürs erste würde es ja reichen, wenn man wenigstens seinem Ruf trauen könnte. Er und Gerdemann, 26, und Sprinter Gerald Ciolek, 22, wollen ja den hiesigen Radsport in eine Zukunft lenken. Tony Martin kennt jedoch das Misstrauen, es begegnet ihm oft im Alltag. "Eine Standardantwort" habe er sich deshalb zurecht gelegt, wenn sie ihn in Eschborn oder Erfurt, wo er seit seinem Sportschulaufenthalt noch ein WG-Zimmer besitzt, Bekannte oder Fremde mit Sprüchen anmachen.

"Ich habe mit der Zeit nichts zu tun", entgegne er dann, und überhaupt müsse sich niemand um ihn sorgen. "Wie man sich nach einem erdopten Sieg freuen kann, das kann ich nicht verstehen", sagt Martin. "Für mich kommt das nicht in Frage." Auch deshalb sei er ja Polizist geworden: "Weil ich so erzogen worden bin, dass Betrug nichts Gutes ist."

Über seinen Weg ist er wohl nicht ganz unglücklich: Geboren in Cottbus, 1989 kurz vor der Wende mit der Familie geflüchtet und nun heimisch geworden in Hessen; erst mit 14 begann er mit Radrennen. Später die Sportschule in Erfurt, wo schon sein Vater, ein früherer DDR-Jugendmeister, lernte. Auf die Eltern habe er auch gehört, als es um das Ablehnen eines ersten Profivertrags und die Ausbildung ging, sagt Martin. Die Uniform hängt daheim in Eschborn im Schrank, und auch diese Sicherheit beschütze ihn vor Dummheiten, betont er. Er wolle keiner sein, der nur sein Rennrad habe und unter Druck stehe, Geld verdienen zu müssen, "das begünstigt den Weg ins Dopingsystem".

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