Radsport-WM:Die Familie genießt die Idylle

Winokurow & Co. sind auch schon da: Am Ende der Saison begegnet der Radsport bei der Straßen-WM im Tessin seiner dubiosen Vergangenheit.

Andreas Burkert

Der Vizepräsident trägt Badelatschen, Jogginghose und ein Polohemd, das etwas kleingeraten zu sein scheint angesichts seines repräsentativen Oberkörpers. Aber Nikolaj Proskurin, 55, schert sich wohl sowieso nicht um unwichtige Dinge. Wenn einer seiner Helfer die gewichtigen Worte des Mannes vom kasachischen Radsportverband übersetzt, steht dieser mit dem Rücken zum fremden Gast, kaut auf einem Kirschstengel und blickt gelangweilt auf den schönen See von Comabbio, den der milde Morgendunst bedeckt. "Wir haben keine Probleme, es ist alles klar für 2010 und vertraglich sicher", brummt Herr Proskurin und meint damit die offiziell noch ungeklärte Zukunft des kasachischen Profirennstalls Astana. "Probleme haben nur die Mannschaften, die hinten in der Weltrangliste stehen - wir sind Erster!"

Radsport-WM: Alexander Winokurow ist nach Ablauf seiner Sperre auch wieder Teil der Radsport-Familie.

Alexander Winokurow ist nach Ablauf seiner Sperre auch wieder Teil der Radsport-Familie.

(Foto: Foto: Getty)

Der Vizepräsident sei übrigens "Businessmann", erklärt sein freundlicher Übersetzer noch. In welcher Branche denn? "Ach, einfach nur Businessmann."

So eine Straßenrad-Weltmeisterschaft ist jedes Mal eine Art Familientreffen des Pelotons, und Herr Proskurin gehört ganz bestimmt dazu. Er ist schließlich Chef der Firma Olympus Sarl, welche die Pro-Tour-Lizenz des Teams Astana hält, über die momentan aus diversen Gründen diskutiert wird. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Wichtig ist, dass Astana, eine der Skandalgruppen des Feldes, natürlich weiterhin zur Familie gehört, die in Mendrisio wieder eng zusammengerückt ist. Im Tessiner Veranstaltungsort der WM stehen in diesen Tagen die bunten Fahrzeuge der Profiteams einträchtig nebeneinander, sie dienen den jeweiligen Nationalteams als Umkleide. Und so entsteigen dem Astana-Bus, in dem sich während der Tour de France noch die Teamrivalen Lance Armstrong und Alberto Contador, der spätere Gewinner, anschwiegen, bei der WM zwei ganz besondere Teilnehmer am Familientreffen in der italienischen Schweiz: Alexander Winokurow und Andrej Kascheschkin.

Viel wird derzeit wieder über den spanischen Vuelta-Sieger Alejandro Valverde diskutiert, der wegen seiner erwiesenen Kollaboration mit dem Madrider Blutdoktor Eufemiano Fuentes in Italien für zwei Jahre gesperrt ist. Deswegen haben die Spanier auch kurzfristig noch ihr Hotel gewechselt, sie zogen von Como, Italien, über die Grenze nach Lugano, in die Schweiz. Dort, in Mendrisio, darf Valverde natürlich starten, denn der Weltverband, die UCI, verzichtet bis zur Klärung der Sache vor dem Internationalen Sportgerichtshof im November auf eine weltweit gültige Suspendierung - die gemäß des UCI-Regelwerkes möglich wäre.

Und so feiert die Radsportfamilie in Mendrisio samt ihrer vielen schwarzen Schafe den Saisonkehraus. Auch Kascheschkin und Winokurow, die beiden Astana-Blutdoper des Affärensommers 2007, sind mit großem Hallo empfangen worden beim Zeitfahren am Donnerstag, nicht nur vom kasachischen Fanklub, der den Astana-Bus belagert. Sie tragen dort alle einheitliche T-Shirts. Es sind T-Shirts in Gelb, der Farbe der Tour, und auf der Rückseite steht: "Vino is back."

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Schwarze Schafe als Favoriten

Vino, Alexander Winokurow, 36, ist am Donnerstag immerhin Achter geworden. Er hatte nach seiner zweijährigen Sperre bereits bei der Vuelta sein Comeback auf der großen Bühne gegeben; Landsmann Kascheschkin, 29, ist in Mendrisio erstmals wieder dabei, am 7. August lief seine Sperre ab. Beide haben gebüßt für ihre Vergehen, die sie noch heute leugnen, das schon. Und doch steht gerade ihr WM-Auftritt im kasachischen Nationaltrikot für die Dreistigkeit und Gelassenheit, mit der der Radsport seine Vergangenheit pflegt.

Denn vor drei Jahren, nach Offenlegung des Doping-Netzwerkes um den Arzt Fuentes, hatten die Profiteams über etwas, was sie damals als "Ehrenkodex" bezeichneten, verabredet, Betrüger insgesamt vier Jahre nicht anzustellen. Und die UCI verlangte eine Unterschrift, mit der sich Profis bei einem Dopingfall zur Zahlung eines Jahresgehaltes verpflichteten, als Voraussetzung für eine Lizenz-Erteilung und die Rückkehr ins Rennen.

In Mendrisio hat der irgendwie bedauernswerte UCI-Sprecher Enrico Carpani einräumen müssen, die Sache mit dem Jahresgehalt sei leider wirkungslos: "Wir haben einige Zahlungsbefehle versendet, aber nie eine Antwort erhalten." Und Herr Proskurin brummt, natürlich würden Astana und Winokurow auch 2010 gemeinsame Sache machen, und zwar in der Pro-Tour. "Vino wird erster Helfer von Alberto Contador sein."

Während für Außenstehende all diese Entwicklungen noch vor drei Jahren, in der Aufbruchsstimmung, die nach Fuentes' Enttarnung herrschte, undenkbar erschienen - zumindest für naive Außenstehende -, haben die Familienmitglieder wohl schon immer gewusst, dass bald wieder eine Ruhe und Idylle einkehren würde, wie sie am abgelegenen See von Comabbio herrscht. Carpanis Chef, der UCI-Präsident Pat McQuaid, hat erst am Freitag wieder freudig berichtet, wie viele Kontrollen man doch inzwischen vornehme und was für ein schönes Jahr seine Familie hinter sich gebracht habe. "Wir hatten eine gute Tour de France", sagte er mit Verweis auf nur einen gestellten Doper; auch die Nachtests würden die Bilanz nicht verschlechtern.

So geht in Mendrisio ein Radsportjahr zu Ende, in dem Astana die Tour gewann, durch Contador, der ja ebenfalls mit Fuentes arbeitete. Ein Jahr, in dem die prominenten Altlasten zurückkehrten, wie auch Armstrong; er wurde Tour-Dritter, mit 38. Über Armstrong sagte vor drei Wochen der dänische Spezialist Jakob Mörkebjerg, seine Blutwerte von der Tour seien "verdächtig" und legten Doping nahe. Armstrong hat daraufhin sämtliche Blutwerte ab April 2009, die der Experte Mörkebjerg auswertete, von seiner Homepage genommen.

Doch die Familie schweigt dazu, sie genießt die Idylle, auch in Mendrisio. "Kein Vergleich!" zu den unruhigen Weltspielen von Stuttgart 2007 oder 2008 in Varese, hört man internationale Berichterstatter schwärmen. Am Sonntag ist das Männerrennen, das wird ein Fest. Favorit ist Valverde, das schwarze Schaf. Winokurow? Eher kaum, brummt Herr Proskurin, "er ist realistisch" und kenne seine Möglichkeiten mit 36. Aber auf nächste Saison, versichert er, "da freuen wir uns alle schon".

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