Radsport:Wenn das Motorrad plötzlich bremst

Radsport: Julian Alaphilippe geht hinter Wout Van Aert zu Boden.

Julian Alaphilippe geht hinter Wout Van Aert zu Boden.

(Foto: Luc Claessen/AFP)

Bei der Flandern-Rundfahrt setzt sich die Sturzserie im Radsport fort: Julian Alaphilippe erleidet einen doppelten Handbruch. Um den Sieg duellieren sich zwei Fahrer, deren Rivalität die Szene noch lange begleiten dürfte.

Von Johannes Aumüller

Normalerweise haben Radprofis ein sehr sicheres Gefühl über den Rennausgang, selbst wenn sie nur ein paar Zentimeter vor oder hinter dem Konkurrenten ins Ziel fahren. Aber als am Sonntagnachmittag der Niederländer Mathieu van der Poel und der Belgier Wout Van Aert nach einem 250 Kilometer langen Kampf die letzten Meter der Flandern-Rundfahrt absolvierten, schienen sie dieses Gefühl für einen Moment verloren zu haben. Keiner der beiden jubelte, und es brauchte einen Moment, bis van der Poel begriff, dass er derjenige gewesen war, der mit minimalem Vorsprung vor dem Rivalen angekommen war. "Ich bin sprachlos. Ich wusste nicht, ob ich gewonnen hatte. Normalerweise weiß ich das immer. Aber ich war so kaputt", sagte er nach seinem ersten Sieg bei einem der fünf Radsport-Monumente.

Auch der Rad-Kalender ist in diesem Jahr ziemlich durchgeschüttelt. Gemeinhin steht Mitte Oktober nur noch die Lombardei-Rundfahrt an, "das Rennen der fallenden Blätter", aber die fand diesmal schon statt, als das Blattwerk noch grün an den Bäumen hing. Dafür läuft noch der Giro d'Italia, wo die Beteiligten ob der am montäglichen Ruhetag durchgeführten Corona-Tests um den Fortgang bangen. Die Spanien-Rundfahrt startet sogar erst an diesem Dienstag ihren auf 18 Tage verkürzten Parcours. Der Klassiker-Reigen ist dafür seit der Flandern-Rundfahrt am Sonntag vorbei - und die lieferte eine durchaus pointenreiche Vollendung dieser Saison.

Kürzlich gifteten sich van der Poel und Van Aert noch an

Die "Ronde" und ihre giftigen Anstiege befeuern oft Dramen, diesmal ereignete sich die für die Dramaturgie maßgebliche Szene 35 Kilometer vor dem Ziel. Die drei Topfavoriten bildeten nach einer Attacke die Spitzengruppe, Van Aert, van der Poel und Weltmeister Julian Alaphilippe, doch nach einer Kurve fuhren am rechten Straßenrand plötzlich zwei Motorräder langsam. Van Aert und van der Poel konnten ausweichen, Alaphilippe hingegen krachte gegen das hintere Motorrad und fiel zu Boden, Diagnose: doppelter Handbruch.

Aus diesem Moment entsprangen gleich mehrere Geschichten. Die eine war, dass Alaphilippes bewegte Saison auf bittere Weise endete. Erst hatte der Franzose bei der Tour de France das Gelbe Trikot erobert und seinem kurz zuvor verstorbenen Vater gewidmet, dann wieder verloren, weil er sich an einer verbotenen Stelle eine Flasche reichen ließ. Kurz danach gewann er den WM-Titel, nun scheint auch ihn jener berühmte "Fluch des Regenbogentrikots" zu treffen, den schon viele andere Titelträger zuvor erlitten: Bei Lüttich - Bastogne - Lüttich jubelte Alaphilippe zu früh über den vermeintlichen Sieg, nun kam es in Flandern zum Crash.

Unfälle auf schlechten Straßen

Dieser war zugleich die Fortsetzung einer ungewöhnlichen Sturz-Reihe. Seit dem Neustart der Saison im Sommer gab es manche Unfälle auf schlechten Straßen sowie Sprints, die in Absperrgittern endeten; zudem die Vorfälle bei der Lombardei-Rundfahrt, wo ein Privat-PKW Maximilian Schachmann vom Kurs rammte und Remco Evenepoel wegen eines ungesicherten Brückenvorsprungs mehrere Meter in die Tiefe stürzte. Alaphilippes Teamchef Patrick Lefevere wetterte nach dem Zusammenstoß in Flandern mächtig, dass das Motorrad da nichts verloren gehabt habe. Doch so eindeutig war die Schuldfrage nicht. Im TV war zu sehen, wie Alaphilippe im Moment des Sturzes kurz abgelenkt war und den Teamwagen anfunkte.

Die dritte Folge dieser Szene 35 Kilometer vor dem Ziel war jedenfalls, dass sich das Duell zwischen van der Poel, 25, versus Van Aert, 26, zuspitzte - den aktuell herausragenden Klassiker-Spezialisten, deren Biografien sich ähneln, aber die doch eine besondere Rivalität verbindet. Nur vier Monate liegen ihre Geburtsdaten auseinander, nur 40 Kilometer ihre Geburtsorte. "Van der Poel und Van Aert sind Gegner, seit sie geboren sind", zitierte die NZZ kürzlich Alberto Bettiol, Flandern-Sieger 2019.

Beide kommen ursprünglich aus dem Rad-Cross; in den vergangenen sechs Jahren gab es keinen anderen Weltmeister (jeder drei Mal). Seit 2018 treten sie verstärkt auf der Straße an. Van Aert genießt inzwischen den Ruf, der stärkste Radprofi des Pelotons zu sein, weil er nicht nur wehrhaft in den Klassikern auftritt, sondern auch schnell sprinten und am Berg ein hohes Tempo gehen kann, wie er nicht zuletzt bei der Tour im Dienst von Jumbo-Visma bewies. Van der Poel vom Zweitligisten Alpecin-Fenix fuhr noch keine große Landesrundfahrt, gilt aber als noch talentierter.

Bei einem bedeutenden Straßenrennen war es bis zum Sonntag noch nicht zu einem direkten Duell um den Sieg gekommen. Noch nach dem Rennen Gent - Wevelgem vor einer Woche waren sie aneinander geraten, weil Van Aert van der Poel vorhielt, dieser sei mehr gegen ihn als um den Sieg gefahren. Am Sonntag befanden sich die Rivalen zum Abschluss der Klassiker-Saison dann auf einmal als Duo an der Spitze. 35 Kilometer lang fuhren sie gemeinsam, gänzlich störungsfrei, um die Verfolger auf Distanz zu halten, und als van der Poel 200 Meter vor dem Ziel den Sprint ansetzte, hatte Van Aert nicht mehr die Kraft, noch einmal vorbeizuziehen. Aber spätestens an diesem Tag wurde klar: Van der Poel versus Van Aert, das wird ein Duell, das die Rad-Szene noch oft prägen dürfte.

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