Tour de France:Der Mann aus der Fischfabrik

Tour de France: Der Spitzenreiter und sein wohl schärfster Konkurrent: Tadej Pogacar (rechts) und Jonas Vingegaard.

Der Spitzenreiter und sein wohl schärfster Konkurrent: Tadej Pogacar (rechts) und Jonas Vingegaard.

(Foto: Anne-Christine Poujoulat/AFP)

Jonas Vingegaard kämpft bei seiner Premiere in der Tour de France überraschend ums Podium - und ist der Einzige, der den Rundfahrt-Dominator Tadej Pogacar in Schwierigkeiten bringen konnte.

Von Johannes Aumüller, Andorra la Vella

Selbstredend trägt Jonas Vingegaard vorschriftsmäßig eine Maske, als er vor dem Start in Carcassonne zum vereinbarten Gespräch angerollt kommt. Aber auch mit dem Stoff im Gesicht ist leicht zu merken, wie er lacht und lächelt, wenn es um seine Biografie geht - vor allem um seine Arbeit in der Fischfabrik in Hanstholm, Region Nordjylland, im Norden Dänemarks. "Ja, das war eine gute Zeit", sagt er fröhlich: "Ich habe das wirklich gemocht." Aber dass er deswegen nun den Spitznamen "Fisherman" trage, wie es manchmal heißt: Nein, das habe er wirklich noch nie gehört.

Vingegaard, 24, zählt zu den größten Phänomenen dieser Tour de France. Es ist sein Debüt bei der Frankreich-Rundfahrt, doch vor den schweren Pyrenäen-Etappen liegt er als Dritter auf Anhieb auf Podiumskurs, 5:32 Minuten hinter dem Spitzenreiter Tadej Pogacar. Bis jetzt war der Däne sogar der einzige Klassementfahrer, der den slowenischen Dominator einmal abschütteln konnte - beim Anstieg auf den mythischen Mont Ventoux, als er oben 38 Sekunden vorne lag, die Zeit aber auf der Abfahrt ins Ziel wieder einbüßte. Die anderen Podiumsanwärter wie Rigoberto Uran (Kolumbien/Team EF/5:18) und Richard Carapaz (Ecuador/Ineos/5:33) versuchten ihr Glück bisher vergeblich. Wenn also jemand die Tour noch mal spannender machen kann, dann wohl Vingegaard.

Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass der Radsport für den Mann aus der niederländischen Jumbo-Visma-Equipe nur ein Halbtagsjob war. Bis zum Sommer 2018 arbeitete Vingegaard von früh morgens bis mittags in besagter Fischfabrik in Hanstholm und begann das Training erst nachmittags. "Das Unternehmen hat Fisch gekauft, der bereits gefangen war, und wir mussten ihn ausschneiden und für den Verkauf vorbereiten", sagt Vingegaard: "Ich habe den Fisch nicht geschnitten. Ich war der Typ, der ihn in Eis gelegt und fertiggemacht hat, damit sie ihn schneiden können." Damals stand er bei einer zweitklassigen dänischen Equipe unter Vertrag. Dann fiel er den Scouts von Jumbo-Visma auf, die eigentlich einen Teamkollegen beobachten wollten. Die Späher stellten bei Vingegaard besondere Veranlagungen fest - schon war er Teil der Profimannschaft.

Bei seiner Attacke am Ventoux erreichte er Rekordwerte

Aus der Fischfabrik aufs Tour-Podium in nur drei Jahren, das wäre eine erstaunliche Entwicklung. Zumal diese Entwicklung auch dazu führte, dass Vingegaard bei seiner Attacke am Ventoux die letzten sechs besonders schweren Kilometer bis zum Gipfel erheblich schneller fuhr als jeder andere vor ihm, auch die Vertreter der Hochdopingära. Das geschah zwar unter vergleichsweise guten äußeren Bedingungen, unabhängige Leistungsdiagnostiker staunten trotzdem immens über den Ritt.

Das Team Jumbo-Visma gilt als eine Mannschaft, die den Sport sehr professionell und umfassend angeht. Die Auswahl rückte im Vorjahr allerdings auch ins Zentrum einer Debatte, weil sie offen bekannte, Ketonpräparate einzusetzen, also Ergänzungsmittel, die die Fettverbrennung beschleunigen können. Die stehen zwar nicht auf der Dopingliste. Aber die niederländische Anti-Doping-Agentur fühlt sich zumindest unwohl damit, und andere Teams verzichten auf den Einsatz, weil die Nebenwirkungen nicht genügend erforscht seien.

Vingegaard tut so, als sei seine Entwicklung ganz normal - und da kommt schon wieder die Fischfabrik ins Spiel. Er habe als Profi einen so großen Schritt machen können, weil er bis dahin ja nebenbei noch gearbeitet habe. "Ich würde nicht sagen, dass ich faul war, aber ich war nicht immer der Typ, der am meisten trainiert hat", sagt er, denn: "Dann hatte ich auch noch einen Job. Ich denke, alles in allem hatte ich viele Aspekte, die ich verbessern konnte, und das hat einen großen Unterschied gemacht."

Sein Team ist zwar auf fünf Fahrer verkleinert, aber stark - und ein guter Zeitfahrer ist er auch

Doch selbst sein Arbeitgeber dürfte überrascht sein, wie schnell es bergauf ging mit seinem unerwarteten Fang. Kurz nach der Verpflichtung 2019 sagte Jumbo-Boss Merijn Zeeman der Zeitung Wielerflits, dass gemäß der Tests "ein sehr großer Motor" in dem Dänen stecke. Nur: "Ich glaube nicht, dass wir in den nächsten Jahren viel von ihm hören werden", sagte Zeeman, "er braucht wirklich Zeit."

Wirklich? Schon 2019 gewann Vingegaard in Polen sein erstes Rennen, 2020 bestritt er seine erste große Landesrundfahrt, die Vuelta, im vergangenen Frühjahr verblüffte er mit seinen starken Leistungen bei der UAE-Tour und der Baskenland-Rundfahrt. Dann rutschte er in den Tour-Kader, weil Tom Dumoulin wegen mentaler Probleme eine Pause einlegte. Zuletzt rückte er sogar zum Kapitän von Jumbo auf, weil der Vorjahreszweite und designierte Pogacar-Herausforderer Primoz Roglic die Tour nach einem Sturz verließ. "Ich brauchte ein bisschen, um hereinzukommen, aber ich wachse langsam hinein", sagte Vingegaard am Sonntag nach der Pyrenäen-Etappe nach Andorra, auf der er Pogacar erneut herausgefordert hatte - diesmal vergeblich. Aber er wolle den Slowenen auch weiter angreifen, versprach er.

Im Kampf ums Podium sind die Aussichten jedenfalls prächtig: Die Jumbo-Equipe ist zwar auf fünf Mann verkleinert, fühlt sich aber so stark, dass sie am Sonntag gleich drei Fahrer in die Ausreißergruppe schickte und zunächst nur Sprinter Mike Teunissen zur Assistenz bei Vingegaard ließ. Zudem steht nach den Pyrenäen am Samstag, dem vorletzten Tag der Rundfahrt, noch ein Zeitfahren an. Und das liegt dem früheren Fischfabrikmitarbeiter Vingegaard gemeinhin besser als den erfahrenen Kletterern Carapaz und Uran.

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