Radsport:Kannibalenparty in Brüssel

Cycling - Eddy Merckx

Heldengeburt im Sommer 1969: Eddy Merckx, gerade vom Giro d'Italia ausgeschlossen, dominiert erstmals die Tour de France.

(Foto: Corbis/VCG via Getty Images)
  • Am Samstag startet die 106. Tour de France in Brüssel.
  • Zum Auftakt feiert die Tour ihren fünfmaligen Sieger Eddy Merckx, der vor 50 Jahren erstmals die Frankreich-Rundfahrt gewann.
  • Das passt ins Bild: Die Positivtests des belgischen Rad-Helden werden genauso ignoriert wie die aktuellen Probleme.

Von Johannes Aumüller, Brüssel

Ein stilles Plätzchen ist das, nur etwas mehr als sechs Kilometer vom Zentrum Brüssels entfernt, in einem Vorort namens Woluwe-Saint-Pierre. Durchaus stattliche Häuser stehen in dieser Gegend, viele Klinkerbauten, gediegene Atmosphäre. Und mitten drin also dieses Oval, der Umfang vielleicht 50 Meter, üppige Begrünung - und ein kleines Denkmal für einen Mann, der in diesen Straßen aufwuchs und dessen Eltern hier einen Lebensmittelladen hatten.

Place des Bouvreuils heißt dieses Eckchen eigentlich, Platz der Gimpel. Aber seit März firmiert er gemeinhin unter einem anderen Namen: Eddy-Merckx-Platz, benannt nach dem erfolgreichsten Radsportler der Geschichte.

An diesem Wochenende steigt in Brüssel der Auftakt der 106. Tour de France, erst eine Flachetappe, dann ein Mannschafts-Zeitfahren, das nur ein paar Gehminuten vom Gimpel-Platz entfernt vorbeikommt. Die beiden Tage sollen eine Reminiszenz sein an Eddy Merckx. Vor exakt 50 Jahren gewann der Belgier erstmals die Tour, es folgten vier weitere Triumphe, öfter schaffte das bisher keiner. Außerdem gab es niemanden, der in der langen Geschichte der Tour häufiger als Merckx das Gelbe Trikot trug (111 Mal), dieses legendäre Stück Stoff, dessen Erfindung sich gerade zum 100. Mal jährt.

Der Start in Brüssel ist also eine Verbeugung. Aber er ist zugleich entlarvend für den Umgang der Branche mit einem seiner Problemthemen. Denn Merckx, heute 74 Jahre alt, war nicht nur der erfolgreichste Radsportler der Geschichte. Sondern er wurde auch mehrfach positiv auf verbotene Substanzen getestet. Von daher stellt sich die Frage, inwieweit ein Volksfest zu seinen Ehren angemessen ist in einer Zeit, in der das Image des Radsports wegen der Dopingfrage so nachhaltig beschädigt ist. Und in der doch immer die Rede davon ist, dass dem Radsport an neuer Sauberkeit und neuem Vertrauen gelegen sei.

Rückblende, Frühling 1969. Merckx führt den Giro d'Italia an, doch nach der 16. Etappe nimmt ihn die Jury aus dem Rennen: ein positiver Dopingtest auf ein Aufputschmittel. Es folgt ein Aufschrei in der Rad-Landschaft, und manche Umstände des Befundes sind in der Tat seltsam. Aber statt einer Sperre gibt es eine nicht minder seltsame Begnadigung durch den Weltverband. Merckx darf zur Tour und die gerät zur Machtdemonstration. Ausgerechnet in seinem Heimatort Woluwe erobert er erstmals das Gelbe Trikot, am Ende gewinnt er mit fast 18 Minuten Vorsprung die Rundfahrt, Gelbes Trikot, Grünes Trikot, Bergtrikot, alles geht an den Mann, den sie wegen seiner Unersättlichkeit den "Kannibalen" nannten.

Vier Jahre später: ein Positivtest auf Ephedrin bei der Lombardei-Rundfahrt. Noch mal vier Jahre später: ein Positivtest auf Pemolin beim Flèche Wallonne. Merckx bestreitet Dopingabsicht, aber diesmal kommt er um eine - überschaubare - Strafe nicht herum.

Doch was interessiert dieser Teil der Merckx'schen Vita schon die Radszene? Sie feiert lieber ausgiebig.

Vielleicht sollten sich die Tour-Größen an andere Jubiläen erinnern

Donnerstagabend in der Brüsseler Innenstadt, in der Nähe des Grand Palace. Vor beeindruckender Kulisse steht die traditionelle Teampräsentation vor der Tour de France an. Eine Mannschaft nach der anderen fährt die kurze Parade-Strecke ab und steigt dann auf die Bühne. Aber selbst die heimischen belgischen Teilnehmer und das britische Team Ineos um seine in der Gesamtwertung favorisierten Kapitäne Geraint Thomas und Egan Bernal wirken nur wie ein Vorprogramm. Denn irgendwann kommt eben Merckx. "Eddy, Eddy", schallt es aus der Menge, von 75 000 Besuchern ist hinterher die Rede, und es gibt sogar ein kleines Feuerwerk. "Als ich 1969 die Tour gewonnen habe, hatte ich Gänsehaut. Und die habe ich hier, 50 Jahre später, wieder", teilt Merckx mit.

Edouard Louis Joseph Baron Merckx, wie er mit vollem Namen heißt, ist ohnehin ein Volksheld im traditionell Radsport-verrückten Belgien. Mitte der Neunzigerjahre wurde er in den Adelsstand berufen, und nicht nur ein kleiner Platz in Woluwe-Saint-Pierre, sondern auch eine Metro-Station im Brüsseler Westen, ein Brettspiel und vieles andere sind nach ihm benannt. Und rund um den Grand Départ, den Tourstart, ist er erst recht präsent. Auf den großen offiziellen Plakaten ist er als junger Athlet zu sehen. Vor dem Expo-Gelände prangt im Park ein riesiges Konterfei. Es gibt eine Extra-Ausstellung, Le Soir publiziert eine zwölfseitige Sonderbeilage nur über Merckx, und im Radio echauffieren sich Moderatoren, dass die Jugend den großen Eddy nicht mehr kenne.

Merckx war mit seinen positiven Doping-Tests damals keine Ausnahme, der Griff zu den Amphetaminen galt in den Sechzigern und Siebzigern als völlig normal. Bis auf den Belgier Lucien Van Impe und den Franzosen Bernard Hinault haben alle Tour-Sieger aus Merckx' aktiven Jahren einen dokumentierten Dopingflecken in ihrer Vita. Und es ist immer eine schwierige Frage, wie ein Sport mit den Personen umgeht, deren Biografien neben großen Erfolgen auch einige Makel vorzuweisen haben - nicht nur im Radsport. Trotzdem gab es sogar schon mal den Fall, dass Merckx' Doping-Vergangenheit konkrete Folgen für ihn hatte: 2007 bei der Rad-WM in Stuttgart versagte ihm die Bürgermeisterin - wie auch diversen anderen positiv aufgefallenen Ex-Größen der Zunft - die Vip-Akkreditierung.

Im Kontext der "Operation Aderlass" tauchen aktuelle Radsportler auf

Den Tour-Organisatoren jedoch sind der Mythos ihrer eigenen Geschichte, der Mythos von den alten Heroen und vom alten Glanz des Gelben Trikots, offenkundig wichtiger als Haltung bei kritischen Themen. Und das ist in diesen Tagen durchaus verblüffend.

Über Jahre und Jahrzehnte jagte eine Affäre die nächste, Festina, US-Postal, Telekom, Fuentes, die vielen Merkwürdigkeiten rund um das Team Ineos (bis zum Mai Team Sky). Auch dieses Jahr fährt ein gut begründeter Zweifel mit, wie schon ein kurzer Blick auf die Geschehnisse der vergangenen Wochen nahelegt. Der Rad-Weltverband muss einräumen, dass er den markant aufblühenden slowenischen Radsport speziell untersucht. Im Kontext der "Operation Aderlass" um das Erfurter Blutdoping-Netzwerk tauchen immer mehr aktuelle oder ehemalige Radsportler auf. Der Spanier Juan José Cobo muss um die Aberkennung seines Erfolges bei der Vuelta 2011 bangen, weil in der Zwischenzeit Auffälligkeiten bei seinem Blutpass festgestellt worden sind. Und es gibt bei dieser 106. Auflage der Frankreich-Rundfahrt übrigens auch noch andere Jahrestage - außer 100 Jahre Gelbes Trikot und 50 Jahre Merckx'scher Premieren-Sieg.

20 Jahre ist es her, dass ein Amerikaner namens Lance Armstrong zum ersten Mal gewann. Sechs Triumphe sowie viele von der Radsport-Szene ignorierte Vorwürfe und Indizien später stellte sich heraus, welch ausgeklügeltes Dopingbetrugssystem rund um den Texaner installiert worden war. Armstrong ist bei der Tour längst eine unerwünschte Person, alle sieben Siege wurden ihm aberkannt. Vielleicht sollten sich die Tour-Bosse dieser Tage auch öfter an dieses Jubiläum erinnern - und die Frage, was sie daraus lernen müssten.

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