Süddeutsche Zeitung

Rad-WM:Der Schmerzensmann hat genug gelitten

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Vier WM-Titel im Einzelzeitfahren, schwere Stürze, klare Worte: Tony Martin war nicht nur auf dem Rad eine der prägenden Figuren seines Sports. In seinem letzten Profirennen gewinnt er noch einmal WM-Gold.

Von Johannes Knuth, Brügge/München

Die ersten Abschiedsgirlanden sah Tony Martin schon während des Rennens, auf dem Asphalt, wie es sich für einen Radprofi gehört. "Tony the Tank", Tony der Panzer, hatten Anhänger auf die Straßen rund um Brügge gepinselt; eine Hommage an Martins etwas platten Spitznamen, aber Fans und Kollegen hatten diesen stets mit Hochachtung vorgetragen. Und Martins Motor hatte am Mittwoch noch einmal genüsslich geschnurrt, 22,5 Kilometer hatten er, Max Walscheid und Nikias Arndt bei der Straßenrad-WM vorgelegt, dann übernahmen die Olympiasiegerinnen von der Bahn, Lisa Brennauer, Lisa Klein und Mieke Kröger. Die parierten den Widerstand der Niederlande souverän, die vor zwei Jahren noch die WM-Premiere dieses Formats gewonnen hatte. Und so spannte sich ein letzter goldener Rahmen um die 15-jährige Laufbahn von Tony Martin. "Das ist das bestmögliche Ende", sagte der 36-Jährige, mit Tränen in den Augen.

Das Mixed-Zeitfahren am Mittwoch war der letzte Auftritt einer sportlichen Vita, die sie in der Ehrenhalle des Radsports wohl nicht allzu tief einhängen werden. Martin gewann allein vier WM-Titel in seiner Spezialdisziplin, dem Einzelzeitfahren (2011, 2012, 2013, 2016), 2012 holte er Silber bei den Olympischen Spielen, dazu allein zehn nationale Titel. "Ich bin stolz auf das, was ich geleistet habe", hatte der gebürtige Cottbuser schon vor der WM ausgerichtet und sich damit nicht des Überschwangs verdächtig gemacht. Martin hatte ja immer wieder Großes geschafft, ohne dabei großspurig aufzutreten, und er hatte dabei engen Begleitern wie dem Publikum eine schaurig-schöne Bewunderung abgenötigt: Wie kann man sich so etwas bloß antun, immer und immer wieder?

Als Martin anfängt, versinken Teams, Rundfahrten und Rennen im Strudel der Dopingaffären

Der Straßenradsport verlangt jedem seiner Jünger einen Hang zum Masochistischen ab, mit ewigen Stunden im Sattel, Wetterkapriolen und ständigem Abgehängt-Werden. Martins Generation bekam zu Beginn ihrer Ära noch etwas Extragepäck aufgeschnallt: Sie war auch wegen der Erfolge eines gewissen Jan Ullrich aufs Rad gestiegen, doch als sie gerade im Radsport aufschlug, versanken Teams, Rundfahrten und Rennen erst einmal im Strudel der Dopingaffären.

Die neuen Gesichter wie Martin, André Greipel und Marcel Kittel bezogen immerhin Haltung, Martin forderte sogar Gefängnisstrafen für Doper, noch Jahre, bevor ein deutsches Gesetz dies in den Bereich des Möglichen rückte. Wobei es irritierte, als er 2017 mutmaßte, dass man im Radsport mittlerweile bei einer Sauberkeitsquote von 98 Prozent angelangt sei - ein Wert, den Fachleute bis heute für arg optimistisch halten.

Immerhin, die sportlichen Vergleiche mit seinen Vorgängern blieben Martin erspart. Er sah rasch ein, dass es mit den Klassements der großen Rundfahrten nichts werden würde. Dafür versöhnte er sich ebenso rasch mit der Tour de France, indem er dort einige Zeitfahren gewann. 2011 brach seine erfolgreichste Zeit an, bei Weltmeisterschaften, Olympia, auch bei Rennen wie Paris - Nizza, das er 2011 gewann. Es war eine Zeit, die das deutsche Publikum langsam wieder zum Radsport führte, es war auch die Zeit, die ein weiteres Bild von Martin schärfte: das des Schmerzensmanns, und zwar nicht nur, weil er so tief ins Leiden versank, wenn er erst mal ins Rollen kam.

Mal brachen Jochbein und Kiefer bei Stürzen. Mal das Kahnbein. Mal zog er sich eine Lungenprellung zu. Mal brach ein Wirbel. 2015 fuhr er bei der Tour endlich ins Gelbe Trikot - zwei Tage später wieder ein Sturz, Schlüsselbeinbruch. Zeitweise sagten die Betreuer, dass sie unsicher waren, ob sie gerade Verbandsmaterial oder Muskelfasern aus seinen Wunden pulten, so oft schlitterte Martin über den Asphalt.

2013 bezifferten Begleiter die Chancen auf "fünf Prozent", dass er weiterfährt, Martin hat ja was Ordentliches gelernt, Polizeimeister. Aber er machte dann doch weiter. Vermutlich kann das nur ein Radprofi verstehen, dem früh eingebläut wird, dass er nur aufgibt, wenn wirklich nichts mehr geht. Als Martin während der Tour wieder mal so schwer gestürzt war, dass er nachts aufwachte, sobald er sich drehte, sagte er: "Eigentlich geht es mir echt gut."

2016 wechselte Martin von Quick Step zu Katjuscha-Alpecin, ausgerechnet der ausgesprochene Dopingbekämpfer bei einer Mannschaft, in der es immer wieder zu Dopingfällen gekommen war. Aber Martin wollte auch das als Zeichen verstanden wissen, dass sich im Peloton etwas zum Besseren wandele. Sportlich war es eine Zeit der Dürre, die Zeitfahren wurden immer kürzer und hügeliger, das schmeckte der Lokomotive gar nicht. Martin versuchte fortan, seinen Zeitfahr-Motor für Ausreißversuche zu nutzen, aber da fehlte ihm dann doch die letzte Abgebrühtheit eines Nils Politt etwa, einem seiner Nachfolger.

Martin hätte noch ein Jahr länger fahren können - doch die zähe Sicherheitsdebatte seines Sports nervte ihn

So zog es ihn im Herbst der Karriere noch mal zu den Niederländern von Jumbo-Visma - und der Erkenntnis, dass nicht nur WM-Titel, sondern auch Helferdienste erfüllend sein können. Er fuhr jetzt nicht mehr den anderen davon, sondern fing die Ausreißer für seine Kapitäne ein, und als die Tour-Leitung vor einem Jahr die Auftaktetappe in Nizza auf spiegelglatter Straße nicht abbrach, spannte sich Martin vor das Feld und führte Kraft seiner Autorität einen kurzen Waffenstillstand herbei.

Dass er seine Karriere nun ein Jahr beendet, bevor sein Kontrakt bei Jumbo endet, begründete er auch damit, dass sich "trotz vieler Diskussionen um Streckenführungen und Absperrungen die Sicherheit in Radrennen nicht verbessert hat". Das aktuelle Jahr hatte es noch mal schwer mit ihm gemeint, allein bei der Tour: Erst stürzte Martin, als er sich bei einer Zuschauerin am Straßenrand einhakte, dann prallte er gegen einen Felsen. Bis heute muss er sein Brot mit Besteck essen, weil die Zähne im Gebiss wackeln. Das war dem zweimaligen Vater dann doch zu viel.

Und so eine Einsicht ist am Ende ja oft mehr wert als jede Goldmedaille.

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