Radsport:Querfeldein, über die Berge und auf die Straße

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Bulliger Antritt auf kurzen Anstiegen: Mathieu van der Poel schob sich bei der Großbritannien-Rundfahrt in den Kreis der WM-Favoriten.

(Foto: David Davies/dpa)

Der Niederländer Mathieu van der Poel ist die Entdeckung dieser Rad-Saison: Mit seiner spektakulären Fahrweise und seinem bulligen Antritt gilt er als künftiger Straßenweltmeister.

Von Jean-Marie Magro

Der Moment, in dem Mathieu van der Poel der Radsportwelt zeigte, wie gut er ist, liegt etwas mehr als fünf Monate zurück. Es war beim größten Eintagesklassiker der Saison, der Flandern-Rundfahrt. Hunderttausende Belgier und Niederländer sehen sich jedes Jahr das Rennen an mit den steilen Anstiegen auf Kopfsteinpflaster an. Van der Poel hatte in der Vorbereitung einige Siege eingefahren und zählte zu den Außenseitern; 50 Kilometer vor dem Ziel steckte der Niederländer im großen Fahrerfeld, als er auf der rechten Seite gegen eine Bordsteinkante fuhr. Er hatte einen Platten, wich auf den Bürgersteig aus, rollte weiter und überschlug sich plötzlich. Ein Griff an die Schulter, die Fernsehkommentatoren befürchteten einen Bruch des Schlüsselbeins, eine verbreitete Verletzung bei Rennradfahrern.

Van der Poel schüttelte sich, ließ sich ein neues Rad geben und strampelte weiter. Er fährt für das Zweitliga-Team Corendon-Circus, einen Zug mit Fahrern, die sich für ihren Kapitän aufopfern und ihm Windschatten spenden, hat er nicht. Trotzdem schaffte er den Anschluss ans Feld und griff Konkurrenten wie Weltmeister Alejandro Valverde oder Olympiasieger Greg van Avermaet sogar mehrmals an. Am Ende wurde Mathieu van der Poel Vierter und schwor, er werde zurückkommen, um dieses große Rennen zu gewinnen. Das Publikum entdeckte an diesem Tag einen jungen Mann, dessen Fahrweise sich in einem Wort bündeln lässt: spektakulär. Die Konkurrenz spricht von nun an vom "Phänomen van der Poel".

Es müssen beeindruckende Familientreffen gewesen sein für Mathieu van der Poel in seiner Jugend in Saint-Léonard-de-Noblat. Etwa, wenn sein Vater Adrie von seinen Erfolgen bei Lüttich-Bastogne-Lüttich, dem Amstel Gold Race und eben dieser Flandern-Rundfahrt in den Achtziger- und Neunzigerjahren erzählte. Und die Anekdoten nahmen wahrscheinlich kein Ende mehr, wenn sich dann der Großvater an den Tisch gesellte, Raymond Poulidor, die vielleicht größte noch lebende Radsportlegende Frankreichs. "Poupou", wie ihn die Franzosen nennen, der Mailand-Sanremo, Paris-Nizza und die Spanien-Rundfahrt gewann. Bekannt ist Poulidor vor allem als ewiger Zweiter bei der Tour de France. Achtmal landete er beim größten Radrennen der Welt auf dem Podium und fuhr dabei keinen einzigen Tag im Gelben Trikot. Vom Genpool hat Mathieu van der Poel also optimale Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere.

"Mathieu ist so besonders, weil er Technik mit Explosivität verknüpft. Er ist der einzige Radfahrer auf der Welt, der in drei Disziplinen absolute Weltspitze ist", sagt Philip Roodhoft. Er ist der Manager von van der Poels Team und kennt den Fahrer wie nur wenige; 2011 formte er mit seinem Bruder ein Jugendteam um das damals 16 Jahre alte Talent. Mit 20 Jahren wurde van der Poel im Querfeldeinfahren der bislang jüngste Weltmeister; den Titel gewann er in diesem Frühjahr erneut. Im Sommer bezwang er dann den schier unbesiegbaren Schweizer Nino Schurter im Mountainbiken mehrere Male, und auf der Straße gewann er 2019 zwölf Rennen, zuletzt die Gesamtwertung sowie drei Etappen bei der Großbritannien-Rundfahrt. Noch will er sich auf keine Disziplin festlegen, sein nächstes Ziel ist Olympiagold im Mountainbiken in Tokio. Danach wird er sich wohl auf die Straße konzentrieren. Die mediale Aufmerksamkeit und vor allem die Gehälter sind dort wesentlich höher.

Mathieu van der Poel kann auf einem Fahrrad so ziemlich alles anstellen, was vorstellbar ist. Es gibt Videos, wie er am Strand durch Rillen im Sand kurvt und über kniehohe Hindernisse springt. Sein Vorderrad zieht er mühelos hoch, er kann kilometerlang nur auf dem Hinterrad fahren. "Radsport ist für ihn eine Passion, ein Hobby", sagt Roodhoft: "Natürlich trainiert er hart, aber Radfahren bedeutet für ihn vor allem eines, nämlich Spaß."

Neben seinen Tricks ist besonders der bullige Antritt des 24-Jährigen beeindruckend. Van der Poel ist es als gelernter Querfeldeinfahrer gewohnt, über einen kleinen Zeitraum maximale Leistung abzurufen. Besonders auf kurzen Anstiegen und ansteigenden Zielankünften ist seine Beschleunigung fast furchterregend. Obwohl er bei 1,85 Metern Größe nur 75 Kilogramm auf die Waage bringt, kann er mehr als 1400 Watt Leistung auf die Pedale bringen. Das reicht zum Beispiel, um eine Flex in Gang zu bringen.

Beim Amstel Gold Race, einem der bergigen Ardennenklassiker im Frühjahr, zog er nach einer unwirklichen Aufholjagd - vier Kilometer vor Schluss hatte die Spitzengruppe noch mehr als 30 Sekunden Vorsprung gehabt - 400 Meter vor dem Ziel einen Sprint an, fuhr die ganze Strecke im Wind und ließ trotzdem prominente Konkurrenten wie Jakob Fuglsang und Julian Alaphilippe hinter sich. "An diesem Tag hat er mich beeindruckt", gibt Roodhoft zu. Die hügelige Strecke beim WM-Straßenrennen am Sonntag von Leeds nach Harrogate dürfte van der Poel also sehr entgegenkommen.

"Natürlich kann er Weltmeister werden. Auf der Straße ist es oft so, dass nicht der Stärkste gewinnt", ist Teammanager Roodhoft überzeugt. Das weiße Trikot mit dem Regenbogen, das ein Jahr lang den Straßenweltmeister kennzeichnet, haben weder van der Poels Vater noch Großvater getragen. Insofern hätte Mathieu beim nächsten Familientreffen in Saint-Léonard-de-Noblat eine ganz eigene Geschichte zu erzählen. Raymond Poulidor glaubt im Übrigen fest daran, dass sein Enkel eines Tages sogar die Tour de France gewinnen kann.

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