Süddeutsche Zeitung

Radsport:Ohne Herzklopfen

Kein Fahrerstreik, keine Ausfälle, und die Rivalen an der Spitze tauschen Nettigkeiten aus - der 98. Giro d'Italia wirkt allzu brav. Tatsächlich kämpft die Italienrundfahrt im Hintergrund ums Überleben.

Von Birgit Schönau, Rom

Es ist der härteste Giro, den es je gegeben hat, behauptet die Gazzetta dello Sport. Italiens meistgelesene Tageszeitung (wer hier anhebt zu spotten, sollte immer daran denken, wie die in Deutschland heißt), veranstaltet die Italien-Rundfahrt. Rosa das Papier der Gazzetta, rosa das Spitzenreiterhemd beim Giro, und dass es beide noch gibt, die Zeitung seit 1896, das Rennen seit 1909, ist ja eigentlich ein Wunder. Deshalb kann man die Prahlerei mit dem härtesten Giro verstehen. Obwohl man sich schon fragt, was ein paar Steigungen und spitze Kurven in der ersten Woche denn sind, verglichen mit jenen Schotterstraßen, auf denen einst das italienische Traumduo Gino Bartali und Fausto Coppi seine epischen Duelle austrug. Das waren andere Zeiten, in denen der Papst die Italiener aufforderte, in Richtung Himmelreich zu strampeln, wie er die Geliebte von Fausto Coppi als Ehebrecherin brandmarkte - als solche musste die arme Frau sogar ins Gefängnis.

Damals war der Giro voller Geschichten, heute, in seiner 98. Ausgabe, kämpft er darum, doch bitte noch die runde Zahl 100 erreichen zu dürfen. Für Veranstalter und Italien-Tour ist beides durchaus nicht selbstverständlich. Die Gazzetta leidet noch mehr unter der Zeitungskrise als die politischen Blätter, und der Giro bewegt sich in einer Dauerkrise unter Dauerverdacht. Wieder ist der Spanier Alberto Contador, 32, Spitzname el pistolero, dabei, der die drei großen Rennen Giro (2008), Tour de France (2007, 2009) und Vuelta (2008, 2012, 2014) gewonnen hatte, und einen weiteren Tour- (2010) sowie Giro-Sieg (2011) wegen Dopings wieder abgeben musste. Contador ist der einzige wirklich prominente Fahrer, zumal sein Kontrahent Vincenzo Nibali das dreiwöchige Rennen durch die Heimat im Hinblick auf die Tour-de-France-Vorbereitung abgesagt hat. Nibali hat 2013 in Italien gewonnen und 2014 in Frankreich. Er fährt für Astana, jenes mysteriöse Team aus Kasachstan, das mit Ach und Krach seine Tour-Lizenz bekommen hat. Beim Giro führt der junge Italiener Fabio Aru, 24, das Astana-Team. Er ist Contadors Herausforderer. Der Spanier fährt seit fünf Tagen im rosa Hemd, der Herausforderer aus Sardinien liegt drei Sekunden hinter ihm.

In der vergangenen Woche war Contador bei einem Massencrash gestürzt und hatte sich die Schulter verletzt. Da hielten alle den Atem an: Würde der Star vorzeitig aufgeben? Doch el pistolero hält durch, sonnt sich in der allgemeinen Aufmerksamkeit und tauscht mit den Medien und mit Aru Nettigkeiten aus. Einer lobt den anderen, einer lässt dem anderen den Vortritt. Um das Klima ein wenig anzuheizen, funkt aus seinem Trainingshotel auf Teneriffa Nibali dazwischen: "Alberto ist stark wie immer, aber super finde ich ihn nicht." Das sind, in Ermangelung echter Rivalitäten und Sensationen, derzeit so die Giro-Schlagzeilen, wobei man jene Helden der italienischen Postpolizei nicht vergessen sollte, die fleißig nach per Smartphone ferngesteuerten Motörchen in den Rennrädern der Fahrer suchen. Bislang sind sie nicht fündig geworden, aber schon die Tatsache, dass das Raddoping diesmal offenbar intensiver verfolgt wird als das traditionelle Blutdoping, ist ja auch interessant.

Der zweimalige Giro-Sieger Ivan Basso ist auch wieder dabei. Als Wasserträger für Contador

Bei Unregelmäßigkeiten aller Art kennen jedenfalls die italienischen Fahnder kein Pardon. In keinem anderen Land Europas gab es so viele Razzien und Festnahmen nicht nur im Radsport, sondern im Sport allgemein. Carabinieri und Polizei verfügen über Spezialeinheiten und sind besonders sensibel im Hinblick auf mafiöse Machenschaften. Alles beim Giro bislang kein Thema. Zehn Etappen sind absolviert, es gab keinen Fahrerstreik und keine eklatanten Ausfälle und dazu schien quasi ununterbrochen die Sonne.

Bester Deutscher in der Gesamtwertung ist auf Platz 90 Patrick Gretsch (AG2R La Mondiale). Der deutsche Meister André Greipel (Lotto Soudal) gewann eine Etappe, Simon Geschke (Giant Alpecin) fuhr am Dienstag im Blauen Trikot des Vortages-Bergsiegers. "Wir sind ja für Etappensiege hier", sagte Greipel, es gibt indes Fahrer, die sich mit weit weniger zufrieden geben. Für den zweimaligen Giro-Sieger Ivan Basso, 37, und den früheren Sprinterkönig Alessandro Petacchi, 41, ist das Dabeisein schon alles. Beide haben Dopingsperren hinter sich, Petacchi hatte eigentlich schon zwei Mal seine Karriere beendet. Und doch fahren sie wieder stoisch der Konkurrenz hinterher. Basso dient dem Spanier Contador, seinem einstigen Rivalen, als Wasserträger. Petacchi möchte als ältester Teilnehmer ältester Etappensieger werden.

Die betagten Italiener sind die eigentlichen Symbolgestalten dieses Giro, sie fahren ihren Glanzzeiten hinterher, sie schinden sich im Sattel nicht mehr für den Ruhm und das große Geld, sondern für einen wiederhergestellten Ruf und ein Auskommen. Garniert mit der anrührenden Behauptung, sie könnten ohne den Radsport nicht leben, und irgendwie mag das ja auch stimmen.

Könnte Italien ohne den Giro leben? Es ist immer noch Publikum da, auf die Straßen durch die schönsten Landschaften Italiens sprühen sie jetzt den Namen von Fabio Aru. Ein Name wie ein Taubengurren. Aber Herzklopfen ist nicht dabei.

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SZ vom 20.05.2015
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