Süddeutsche Zeitung

Radsport:Am liebsten solo

Lennard Kämna fährt nach einer monatelangen Pause wegen Motivationsproblemen erfolgreich beim Giro d'Italia. Der 25-Jährige muss sich nun fragen: Möchte er Etappenjäger bleiben oder doch aufs Podium einer Grand Tour?

Von Jean-Marie Magro

Frank Sinatra sang nicht nur gut, sondern spielte auch Karten. Einst sagte er: "Du lebst nur einmal, aber wenn du deine Karten richtig ausspielst, ist einmal genug." Ob Lennard Kämna gerne Sinatra hört, sei dahingestellt, aber wenn man das Wort leben durch attackieren ersetzt, so fasst der Satz ziemlich treffend den Fahrstil des 25-Jährigen zusammen. Kämna ist keiner der Bergspezialisten, die immer wieder und wieder krachend beschleunigen. Wenn er aber angreift, dann sitzt die Aktion.

Beim gerade laufenden Giro d'Italia demonstrierte der Wedeler diese - wie Franzosen sagen - façon de courir. Während der vierten Etappe hinauf zum Ätna befand sich Kämna in der Ausreißergruppe. Der spanische Bergspezialist Juan Pedro Lopez versuchte sich als Solist und hatte einen ordentlichen Vorsprung. Doch Kämna fing den Enteilten unaufgeregt mehr als zwei Kilometer vor dem Ziel ein. Ein Angriff, aber mehr braucht ein Diesel wie Kämna, der seinen Rhythmus stoisch halten kann, nicht. In der letzten Kurve schaffte er es, einen kleinen Abstand zwischen sich und den Verfolger zu legen, und konnte auf der Ziellinie die Arme - vermeintlich - gemütlich zum Jubeln heben.

Derlei Leistungen dieses Radsporttalents sind nicht überraschend. Schon im Jahr 2014 wird Kämna Junioren-Weltmeister im Einzelzeitfahren. Mit 20 unterschreibt er seinen ersten Profivertrag beim damaligen Team Sunweb, 2017 gewinnt er mit Teamkameraden wie Tom Dumoulin WM-Gold im Mannschaftszeitfahren. Kämna ist 1,81 Meter groß, wiegt aber laut Angaben seines heutigen Teams Bora-Hansgrohe nur 65 Kilo. Auf ebener Straße hat er viel Kraft und bergauf können ihn nur wenige abschütteln: perfekte Voraussetzungen für einen Klassementfahrer.

Als Kämna nach seinem Tour-Etappensieg 2020 durchstarten wollte, fing er sich zwei Infekte ein

Den bisherigen Karrierehöhepunkt Kämnas markiert der Sieg der 16. Etappe bei der Tour de France 2020. Wie so typisch für ihn kommt Kämna in Villard-de-Lans als Solist an. Zuvor hatte er in einer Ausreißergruppe Hochkaräter wie Julian Alaphilippe, Sébastien Reichenbach und Richard Carapaz abgehängt. Das ist Kämna, wie er Radsport liebt und lebt.

Allerdings folgte nach dem Sieg eine Zeit, in der er, wie er im vergangenen Jahr dem Weser Kurier sagte, nicht mehr große Lust hatte aufs Rad zu steigen. "Der ursprüngliche Auslöser für diese Auszeit war wohl eine Portion Übermotivation", sagt der Manager der Bora-Hansgrohe Equipe Ralph Denk. Denn wer in diesem jungen Alter eine Bergetappe bei der Tour gewinnt, für den ist der nächste logische Schritt, dass er nach dem Gelben Trikot selbst strebt. Kämna bekam einen Infekt, stieg zu früh wieder ins Training ein und fing sich noch einen Infekt ein. "Dann ging gar nichts mehr", erinnert sich Denk. "Ich habe ihm dann gesagt: Melde dich zurück, wenn du wieder willst."

Fünf Monate lang nahm sich das Spitzentalent eine Auszeit. Die erste Startnummer, die er wieder ans Trikot zwickte, war die für ein Mountainbike-Rennen in Südafrika. Neue Disziplin, neue Kultur. Kämna gewann wieder Spaß am Radfahren. Dazu, sagt er, ohne tiefere Einblicke zu geben, habe er dank Familie und Freunden eine innere Balance gefunden. Obwohl er im März an Corona erkrankte, dadurch Wettbewerbe und Höhentrainingslager verpasste, behielt er seine Lockerheit und scheint nun beim Giro d'Italia so Rad fahren zu können, wie es ihm Spaß macht.

Es stellt sich nur die Frage: Möchte er der erfolgreiche Etappenjäger bleiben oder doch mal auf ein Podium einer Grand Tour? Ralph Denk sagt, dass er dieses Gespräch nach dem Giro unbedingt führen möchte. Den Ende des Jahres auslaufenden Vertrag mit Kämna will der Teammanager jedenfalls verlängern - egal in welcher Rolle sich dieser sieht. Denk ist überzeugt davon, dass sein Schützling die körperlichen Voraussetzungen für die Gesamtwertung mitbringt: "Wir müssen darüber sprechen, ob er sich diesen Megastress eines Kapitäns bei einer Grand Tour zutraut. Da möchte ich auch mal seine Antwort hören."

Beim diesjährigen Giro gehe es jedenfalls nicht darum einen vorderen Platz in der Gesamtwertung zu erreichen. Lennard Kämna genießt Freiheiten, soll in Ausreißergruppen auf Etappensiege fahren. Das hat bisher schon gut geklappt. Für alles weitere: "Schau mer mal", sagt der Bayer Ralph Denk.

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