Und plötzlich kam dieses Straßenrennen der Frauen zu einem kreischenden Halt, als hätte jemand mit der Faust auf den Plattenspieler geschlagen. Die Niederländerin Annemiek van Vleuten, 33, war auf eine Rechtskurve zugesteuert, auf der finalen Schussfahrt, 20 Kilometer vor dem Ziel. Ihre Beine waren ermattet vom letzten Ritt auf den Vista Chinesa, der Körper dampfte vor Erschöpfung, aber van Vleuten hatte sich als Erste über diesen Berg gekämpft, und gleich würde sie die Copacabana sehen, das Ziel. Dann entglitt ihr plötzlich die Kontrolle. Sie rutschte in der Kurve, als fahre sie über ein Meer aus Seife. Stand quer. Überschlug sich. Prallte gegen den hohen Bordstein. Blieb regungslos am Straßenrand liegen.
Das Rennen rückte fürs Erste in den Schatten. Dass die Amerikanerin Mara Abbott davonzog, dass ihr mickrige einhundert Meter vor dem Ziel der Sieg entglitt, weil die Niederländerin Anna van der Breggen vorbeirauschte und vor der Schwedin Emma Johansson und der Italienerin Elisa Longo gewann - geschenkt. Jetzt war nur wichtig, dass van Vleuten aufstand, aber die Nachricht ließ erst mal auf sich warten. "Bad crash", schlimmer Sturz, flimmerte nur über die digitale Ergebnisliste, "bad crash". Anna van der Breggen, die neue Olympiasiegerin, weinte im Ziel, man wusste nicht so recht, ob vor Freude oder Schreck, vermutlich wegen beidem.
Es dauerte rund eine Viertelstunde, dann hob sich langsam der Schleier des Entsetzens, der sich über das Rennen an der Copacabana gelegt hatte. Van Vleuten stehe zwar unter Schock, sei aber bei Bewusstsein und auf dem Weg ins Krankenhaus, teilte der niederländische Verband mit. Es gehe ihr "okay".
Am späten Abend traf dann ein etwas genaueres Bulletin der medizinischen Abteilung ein, es las sich nicht mehr wirklich okay, weder beunruhigend noch sonderlich beruhigend: schwere Gehirnerschütterung, drei Knochenabsplitterungen an der Lendenwirbelsäule, man habe van Vleuten für die Nacht auf die Intensivstation gebracht, zur Beobachtung. Sie sei weiter bei Bewusstsein und "klar im Kopf", so der niederländische Verband.
Ihre Verfolgerinnen hatten nach und nach die Unfallstelle passiert und die reglose Niederländerin am Straßenrand gesehen, "das hat mich geschockt", sagte van der Breggen, die spätere Siegerin, "ich dachte, sie sei tot". Auch Emma Johansson, die Zweite, war im Ziel "entsetzt", das Feld sei so klein, "wir kennen und respektieren uns alle". Als die Ergebnisliste am Sonntag das Peloton in Sieger und Verlierer teilte, rückte das Feld für einen Moment etwas näher zusammen, immerhin etwas Gutes, das aus diesem Sturz hervorging.
Die vorläufige Bilanz des olympischen Wochenendes fiel freilich bedenklich aus. Am Samstag, bei den Männern, waren diverse Fahrer gestürzt und hatten sich diverse Knochen gebrochen (siehe nebenstehender Text). Das Rennen der Frauen war zwar nur halb so lang wie das der Männer, dafür rasten Sturmböen vom Meer ins Land und drückten gegen die Räder.
Und auch sonst steckten genügend Gemeinheiten in diesem Kurs, vor allem am Ende, als die Fahrerinnen sich erst den knapp neun Kilometer langen Anstieg zum Chinesa hinaufschleppten. Und dann, mit reichlich Müdigkeit in den Gliedern, die enge Abfahrt hinunterrauschten, jeder auf der Jagd nach einer Medaille. War der Kurs zu hart? "Wenn du in Führung liegst, nimmst du vielleicht zu viel Risiko", sagte van der Breggen, "vielleicht war es einfach nur Pech. So ist das bei einem Radrennen."
Die deutschen Fahrerinnen hatten sich bis zum letzten Anstieg oft vor das Feld geklemmt oder waren geflüchtet, fielen dann aber geschlossen aus der Spitze. Lisa Brennauer wurde als beste Deutsche 19., gefolgt von der Münchnerin Claudia Lichtenberg (31.), Trixi Worrack (43.) und Romy Kasper (44.).