Geraint Thomas beim Giro d'Italia:Rakete in Rosa

Geraint Thomas beim Giro d'Italia: Führender der Italienrundfahrt: der Waliser Geraint Thomas.

Führender der Italienrundfahrt: der Waliser Geraint Thomas.

(Foto: Luca Bettini/AFP)

Die Radsport-Rente muss noch warten: Der ehemalige Tour-Sieger Geraint Thomas aus Wales überrascht beim Giro d'Italia an der Spitze des Klassements - nicht zum ersten Mal in seiner Laufbahn.

Von Johannes Knuth

Eines der untrüglichsten Zeichen, dass mit dem Radprofi Geraint Thomas wieder zu rechnen ist, erging zuletzt nicht im Rennen, sondern am Montag, dem letzten Ruhetag des aktuellen Giro d'Italia. Thomas hatte offenbar vor dem Hotel seiner - traditionell nicht knauserigen - Ineos-Mannschaft Platz genommen. Die digital zugeschalteten Reporter erspähten edel verzierte Gitter, üppige Blumenbeete und eine Zufahrt, die auf ein Anwesen hindeutete, in dem James Bond ohne Scham seine Flamme zum Rendez-vous geladen hätte. Dort nahm Thomas also die Fragen entgegen, und anhand des Themenspektrums erkannte man schon, dass sich einige Reporter mit Stoff für das baldige Geraint-Thomas-Siegerportrait wappneten.

Nico Denz, der zweimalige Etappensieger von deutschen Team Bora-Hansgrohe, habe kürzlich ja enthüllt, dass er Schlagermusik möge, begann eine Frage: Was halte Thomas denn von den Folkklängen aus seiner Heimat Wales? Er müsse erst einmal recherchieren, was Schlagermusik sei, beichtete Thomas und klang dabei nicht so, als rechne er mit erfreulichen Ergebnissen. Er sei in jedem Fall "eher der Hip-Hop-Typ", Schwerpunkt: Eminem, Tupac, Biggie Smalls.

Die Favoriten bei dieser Italien-Rundfahrt hatten sich bis in diese dritte Woche hinein belauert - kein Wunder, warten dort die gemeinsten Prüfungen - am Dienstag, auf dem mit 5200 Höhenmetern gespickten Weg zum Monte Bondone, brach das Rennen jedenfalls aus wie ein plötzlich zum Leben erweckter Vulkan. Thomas, der Portugiese Joao Almeida und Primoz Roglic schüttelten alle Verfolger ab, wobei die entscheidenden Attacken kein Werk von Roglic waren, der sein Team den ganzen Tag hatte schuften lassen, sondern erst von Almeida und dann wahrhaftig von: Thomas, dem Tour-de-France-Sieger von 2018, der wie eine "Rakete" (Almeida) beschleunigt hatte und nun mit dem rosa Leibchen des Gesamtführenden in die nächste Bergetappe am Donnerstag zieht, seinem 37. Geburtstag.

"Ich weiß, dass wir keine Regeln brechen und einfach nur hart arbeiten", hatte Thomas 2018 nach seinem Tour-Sieg beteuert

Viele hatten ihm vor ein paar Wochen höchstens Außenseiterchancen prophezeit, und das mit Recht: Thomas' Frühjahr war von Infekten zerfurcht gewesen, zu Beginn des Giros wirkte sein Teamkollege Tao Geoghegan Hart stärker, der Gesamtsieger von 2020. Ein prominenter Vertreter der Außenseiterthese war Thomas selbst: "Mein Ziel war es, so wenig Zeit wie möglich zu verlieren", sagte er am Montag: "Das lief deutlich besser als erwartet."

Tatsächlich sind es bislang die Kontrahenten, die nicht nur Zeit verlieren, sondern auch die Kontrolle. Remco Evenepoel, der letztjährige Vuelta-Sieger und große Favorit, stürzte mehrmals, meldete sich dann mit Corona-Infekt ab. Alexander Wlassow, die große Hoffnung von Bora-Hansgrohe, stieg nach Krankheit aus; und Geoghegan Hart stürzte auf der regendurchtränkten elften Etappe und gab auf, wie so viele. Dafür radelt nun wieder Thomas im Licht, 18 Sekunden lag er am Dienstag vor Almeida, 29 vor Roglic - und 3:20 Minuten vor Lennard Kämna, der sich mittlerweile auf einen sehr respektablen Rang sechs vorgearbeitet hat.

So erinnert gerade vieles wieder an den Thomas von 2018, der damals abgebrüht aus dem Schatten seines Kapitäns Christopher Froome rauschte, seine Emotionen erst zeigte, als er im Gelben Trikot in Paris einzog ("Das letzte Mal, als ich geheult habe, war bei meiner Hochzeit."). Er schaue auch jetzt wieder "von Tag zu Tag"; er werde nicht "aus Spaß angreifen und dann eingehen" - noch warten die Königsetappe an den Drei Zinnen am Freitag und ein brutales Bergzeitfahren am Samstag am Monte Lussari. Die größte emotionale Wallung überfiel Thomas zuletzt, als er Mark Cavendish würdigte, den 38-jährigen Sprinter, der am Montag bekanntgegeben hatte, dass er nach dieser Saison die Karriere beendet. "Sehr komisch zu sehen, dass er aufhört", sagte Thomas. "Das heißt, dass ich es auch bald tun werde."

Einen weiteren großen Auftritt hatte er ein paar Tage zuvor gehabt, nach der 13. Etappe, die auf Bestreben der Fahrer hin wegen des fürchterlichen Wetters verkürzt worden war. Kurz darauf hob in den sozialen Medien der übliche Früher-war-alles-besser-Bass an: Einige Ex-Profis lästerten, dass sie damals natürlich die volle Etappe bestritten hätten. Thomas ungewöhnlich scharfer Konter: "In den Achtziger- und Neunzigerjahren sind viele Dinge passiert, die wir jetzt nicht mehr tun, worauf wir sehr stolz sind. Von daher können die sagen, was sie wollen."

Ein Volltreffer - aber ausgerechnet von einem der erfolgreichsten Protagonisten aus dem britischen Radsport mit seinem affärengestählten Team Ineos, ehemals Team Sky? Jener Equipe, die über Jahre mit medizinischen Ausnahmegenehmigungen, angeblich versehentlich gelieferten Testosteronpflastern und Positivtests auf Asthmamittel auffiel?

"Ich weiß, dass wir keine Regeln brechen und einfach nur hart arbeiten", hatte Thomas 2018 nach seinem Tour-Sieg beteuert, "ich weiß, dass mein Ergebnis den Test der Zeit überstehen wird." Unbestritten ist, dass Thomas mindestens eine erstaunliche Aufsteigergeschichte hinter sich hat - als 21-Jähriger, der 2007 bei der Tour Vorletzter wurde, wegen seiner fülligen Figur "Pinguin" gerufen wurde, ehe er zweimal Olympiagold auf der Bahn mit der Mannschaft gewann, auch 2019 (Zweiter) und 2022 (Dritter) das Podest der Tour erklomm. Und der vielleicht bald auch beim Giro wieder feiert, mit dem einen oder anderen Hip-Hop-Klang.

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