Bahnradfahrer Robert Förstemann:Plötzlich Kämpfer für Inklusion

A training session of the UCI 2019 Para-Cycling Track World Championships - Final of the 1km time trial - 13.03.2019; Förstemann

Robert Förstemann (re.) und Kai Kruse wollen zu den Paralympischen Spielen.

(Foto: Oliver Kremer/DBS)
  • Bahnradfahrer und Olympia-Medaillengewinner Robert Förstemann fährt seit diesem Jahr im Tandem mit dem sehbehinderten Kai Kruse.
  • Nach 17 Jahren als Einzelkämpfer lernt er eine neue Perspektive kennen.
  • Nun versucht er, die Inklusion in seinem Sport voranzutreiben.

Von Sebastian Fischer

Zuerst, sagt der Bahnradfahrer Robert Förstemann, hätten die Leute geschluckt, als er ihnen von seinem Plan erzählte. Sie dachten, er würde nun aufhören mit dem Profisport und seine Karriere beenden. Dabei hat er ihr einen neuen Sinn gegeben. Es geht jetzt nicht mehr nur um ihn.

Förstemann, 33, ist ein erfolgreicher Sportler, Bronzemedaillengewinner im Teamsprint bei den Olympischen Spielen 2012 in London. Bekannt ist er allerdings vor allem wegen seiner gewaltigen Oberschenkel: 72 Zentimeter Umfang, so dick wie eine 50 Jahre alte Eiche. Bis vor ein paar Monaten wollte er für Deutschland im Teamsprint an den Spielen in Tokio 2020 teilnehmen. Doch seine Chancen schwanden, und dann hat er verzichtet. Er fährt nun im Tandem, als Pilot für den sehbehinderten Radfahrer Kai Kruse. Sie wollen 2020 auch nach Tokio, allerdings zu den Paralympics, den Spielen für Menschen mit Behinderung. "Ich wollte noch mal was Neues erleben", sagt Förstemann: "Was Spannendes."

Warum dieses Projekt ein besonderes ist, kann am besten Kai Kruse erklären. Er geht an einem der ersten warmen Tage des Jahres ans Telefon, gerade schiebt er seinen Sohn im Kinderwagen durch seine Heimat Rangsdorf bei Berlin. Dann erzählt er, wie er vor einem Jahr befürchtete, dass er aufhören muss mit dem Leistungssport.

Kruse, 27, sehbehindert seit einer schweren Gehirnerschütterung im Kindesalter, nahm 2012 an seinen ersten Paralympics teil - als Ruderer. Im Mixed-Vierer gewann er die Silbermedaille. Danach begann er mit dem Radsport, dem Tandemfahren, wofür er einen sehenden Athleten braucht, der vor ihm sitzt. 2016 gewann er bei den Paralympics in Rio de Janeiro mit dem Piloten Stefan Nimke die Bronzemedaille im Zeitfahren über 1000 Meter. Nimke, damals 38, war damit der erste deutsche Sportler, der Medaillen bei Paralympics und bei Olympia gewann, im Teamsprint hatte er 2004 Gold geholt. Doch zu Beginn des vergangenen Jahres konnten die beiden ihre sportlichen Ziele nicht mehr miteinander vereinbaren, so erzählt es Kruse. Und ohne Pilot verlor er zunächst seine Sportförderung. Er brauchte also dringend einen neuen Fahrer, einen mit viel Kraft, der außerdem in der Nähe wohnt fürs Training. Kruse, der neben dem Sport zehn Stunden pro Woche als Physiotherapeut arbeitet, dachte sich: "Entweder top - oder halt gar nicht mehr."

"Ich war erst mal überrascht"

Deutschland zählt zu den erfolgreichsten Nationen im Para-Radsport, 2016 gewann nur Großbritannien mehr Goldmedaillen. Doch wenn es um Anerkennung geht, schwärmt Kruse von Australien. Dort, sagt er, sei es ganz normal, dass olympische Radfahrer aus der zweiten Reihe im paralympischen Tandem fahren, um sie zu fördern. In Deutschland ist das eher unüblich. Aber Förstemann, der 2018 im Grunde noch auf Olympia hoffte, passte genau in sein Anforderungsprofil. Also fragte er einfach mal.

Förstemann sagt, er habe gründlich überlegt, "ich war erst mal überrascht". Doch er kannte Kruse und andere paralympische Athleten bereits vom gemeinsamen Training, "die waren keine fremden Menschen für mich". Sein Arbeitgeber, die Bundespolizei, stimmte zu. Und als die Entscheidung reifte, waren es nicht nur Neugier und Ehrgeiz, die ihn überzeugten.

Man trat ihm in der Vergangenheit wohl nicht zu nahe, wenn man ihm eine recht gewöhnliche Leistungssportlermentalität attestierte, eher keine besondere Nachdenklichkeit. Man kann ihm etwa auf dem Youtube-Kanal eines Bodybuilders dabei zusehen, wie er mit Kniebeugen seine riesigen Muskeln trainiert, deren hemmungsloses Wachstum er mit einem Gendefekt - einem Mangel am Enzym Myostatin - erklärt, um dem Dopinggeneralverdacht zu begegnen. Einen "Bolzer" nennt ihn der Bahnrad-Bundestrainer Detlef Uibel. Doch je mehr sich Förstemann mit Behindertensport beschäftigte, desto häufiger wandelte sich seine Perspektive.

"Mann ey, das Thema Behinderung wird stiefmütterlich behandelt in Deutschland"

Er verfolgte, wie Kristina Vogel, die nach ihrem Unfall auf der Bahn im vergangenen Jahr eine Querschnittslähmung erlitt, sich auf ein neues Leben einließ und damit nicht nur das Sportpublikum inspirierte. Er lernte die Berlinerin Elisa Chirino kennen, einst ein großes Turntalent, nach einem Trainingsunfall gelähmt. Und er dachte, so erzählt er es: "Mann ey, das Thema Behinderung wird stiefmütterlich behandelt in Deutschland." Er dachte auch: "Wir fahren immer im Kreis und uns geht's nicht schlecht." Aber im Grunde komme es ja auf mehr an, Förstemann drückt es so aus: "Mal sehen, was in der Welt wirklich abgeht." Im Januar stürzte er beim Bremer Sechstagerennen schwer und kam mit mehreren Brüchen noch ausgesprochen glücklich davon. Da hatte er sich längst entschieden, Kruse zuzusagen.

Das gemeinsame Training hätte Anfang des Jahres beginnen sollen, verzögerte sich aber durch Förstemanns Sturz. Vor den Weltmeisterschaften im März in den Niederlanden hatten sie bloß ein paar Übungseinheiten zusammen absolviert. Sie wurden Siebte. In Tokio wollen sie im kommenden Jahr um eine Medaille fahren. Es gibt also noch viel zu tun.

Im Tandem sind beide Partner am Limit gefordert, die Belastung ist kaum zu vergleichen mit anderen Disziplinen im Para-Sport, in denen ein Guide dem sehbehinderten Athleten den Weg weist. Es kommt auf Feinabstimmung an, Synchronisation, sekundengleiches Aufstehen auf dem Rad. Für Förstemann bedeuten die 1000 Meter zudem längere Belastungszeiten als im Sprint. Bundestrainer Uibel sagt über seinen früheren Athleten, dass er allem Ehrgeiz zum Trotz zuletzt die Erwartungen im Nationalteam nicht mehr habe erfüllen können, dass er technische und taktische Defizite nicht kompensieren konnte, große Kraft nicht mehr in Schnelligkeit umsetzte. Über Förstemanns neues Ziel sagt er: "Das zeigt, dass er wirklich ein Sportler ist." Und Kruse sagt über seinen Piloten: "Er macht sich wirklich gut."

Es gehört nicht nur das Training zu zweit zu den neuen Aufgaben, sondern zum Beispiel auch der Weg dahin. Im Auto, erzählt Kruse, bitte ihn Förstemann noch manchmal aus Gewohnheit, für ihn nachzuschauen, ob die Straße frei ist. "Dann lacht man sich halb tot", sagt Kruse: "Er hat keine Vorurteile, er geht mit gesundem Menschenverstand da ran."

Und so spricht Robert Förstemann, der für seine großen Oberschenkel berühmt wurde, neuerdings von Inklusion. Er sagt, er wolle etwas bewegen für den paralympischen Sport, mehr Aufmerksamkeit schaffen. Im olympischen Nationalteam soll er in Lehrgängen noch als Ratgeber für die Jungen dabei sein, bei Weltcups darf er allein nicht mehr starten, bei Sechstagerennen fährt er weiterhin als Solo-Sprinter, neulich in Manchester wurde er Fünfer von sechs. Das helfe ihm, um in Form zu bleiben, sagt er. Auch dort, bei den Veranstaltungen, die das Radsportpublikum anziehen, will er dafür werben, Tandems ins Programm zu integrieren. Am liebsten in Berlin, wo er mit Kruse trainiert.

Wenn ihn noch mal jemand fragen sollte, ob es das jetzt war mit seiner Karriere, dann hat er überzeugende Argumente dagegen. "Ich habe 17 Jahre lang für mich alleine gekämpft. Jetzt haben wir ein gemeinsames Ziel. Wenn ich einen scheiß Tag habe, dann haben wir den jetzt gemeinsam." Robert Förstemann sagt: "Das ist schon 'ne coole Sache."

Zur SZ-Startseite
Gala zur Wahl der 'Sportler des Jahres 2018'

Sportler des Jahres
:Kristina Vogels Worte hallen lange nach

Die frühere Bahnradfahrerin, die seit Juni querschnittsgelähmt ist, wird bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres als Zweite ausgezeichnet. Danach appelliert sie an ihre Kollegen, zu genießen.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: