Radsport:Der Spaßvogel verfliegt sich im Wald

Wer eine Etappe gewinnt, kann nicht viel falsch gemacht haben: Zu den Darstellern und Geschichtenerzählern der 105. Tour de France gehören natürlich Tagessieger, aber auch ein täglicher Verlierer - eine Nachlese.

Von Johannes Knuth, Paris

Noch einmal hebt sich der Vorhang zu dem Schauspiel, das auch diese 105. Tour de France der Radrennfahrer wieder war, und gibt den Blick frei auf die Darsteller und Geschichten der vergangenen drei Wochen. Es war ein flirrendes, buntes Durcheinander - oder folgte doch alles einem gemeinsamen Skript?

Alexander, der Erste

Radsport: Alexander Kristoff.

Alexander Kristoff.

(Foto: Philippe Lopez/AFP)

Was so ein Sieg auf der Schlussetappe der Tour nach Paris doch ausmacht, Alexander Kristoff konnte am Sonntag einiges davon berichten. Der Norweger erzählte, dass seine maue Saison sich plötzlich in eine gute verwandelt hatte, dass die Kritik an ihm verstummt war - viel fehlte nicht, und Kristoff hätte vermutlich den Entschluss gefasst, mit all seiner frischen Motivation demnächst den Mount Everest hinaufzuradeln. "Paris ist so historisch wie eine Weltmeisterschaft für uns Sprinter", sagte er stattdessen - und ließ sich auch nicht davon beirren, dass die meisten Sprinter diesmal in den Bergen am Zeitlimit gescheitert und in Paris gar nicht mehr mitgefahren waren. Na ja, sagte Kristoff, "vielleicht waren sie nicht auf all diese Etappen vorbereitet". Der 31-Jährige war jedenfalls voller Genugtuung; im vergangenen Winter hatte er die Equipe Katjuscha-Alpecin verlassen, wo er mit dem Teamchef Alexis Schoeb aneinandergeraten war. Schoeb hatte Kristoff geraten, ein bisschen abzuspecken, Kristoff lehnte dankend ab. Katjuscha holte dann Marcel Kittel, den fünfmaligen Tour-Etappensieger von 2017 aus Deutschland, der diesmal aber nicht in Bestform war, von Sportchef Dimitri Konitschew heftig kritisiert wurde und ebenfalls in den Bergen ausstieg. Am Sonntag sagte Schoeb: "Wir müssen wieder die kleinen Dinge besser machen, die zwischen Platz drei und eins entscheiden." Was eine Tour so alles ausmacht.

John, der Zweite

Radsport: John Degenkolb.

John Degenkolb.

(Foto: Peter Dejong/AP)

John Degenkolb wurde mit Applaus am Bus seines Teams Trek-Segafredo empfangen, der auf dem Place de la Concorde parkte. In den Kühlboxen lagerten Champagner und holländisches Dosenbier auf Eis. Aber Degenkolb war (noch) nicht zum Feiern zumute. Er hatte den Sprint auf den Champs-Élysées 200 Meter vor dem Ziel eröffnet, lag in Führung, doch dann schob sich Alexander Kristoff noch um eine halbe Radlänge vorbei, Platz zwei. "Total ärgerlich eigentlich", sagte Degenkolb, aber man spürte, dass seiner Wut ein bisschen die branchenübliche Schärfe fehlte. Der 29-Jährige hatte in der ersten Tour-Woche ja die fiese Etappe übers Kopfsteinpflaster nach Roubaix gewonnen, es war sein erster Etappensieg in Frankreich gewesen, auf den er lange und durch viele Rückschläge hindurch gewartet hatte. Nebenbei verlängerte Degenkolb die Serie der deutschen Etappensiege bei der Tour, die seit 2011 anhält. Paris war überhaupt ein versöhnliches Ende einer zähen Rundfahrt für die deutsche Reisegruppe; neben Kittel waren auch André Greipel, Rick Zabel und Marcel Sieberg in den Bergen ausgestiegen. Der Berliner Simon Geschke wurde am Ende 25. im Gesamtklassement, Nils Politt machte sich in einer Ausreißergruppe auf dem Pariser Prachtboulevard verdient. Und Degenkolb blickte zurück auf "die beste Tour, die ich bislang gefahren bin". Wer eine Etappe gewonnen hat, hat nicht viel falsch gemacht.

Peter, der Sechste

Radsport: Peter Sagan gehört nicht nur wegen seines grünen Leibchens zu den auffälligsten Akteuren dieser Frankreich-Rundfahrt.

Peter Sagan gehört nicht nur wegen seines grünen Leibchens zu den auffälligsten Akteuren dieser Frankreich-Rundfahrt.

(Foto: Marco Bertorello/AFP)

Peter Sagan hat sich einmal ein Tattoo mit seinem Konterfei auf den Bauch stechen lassen, es zeigt ihn in der Rolle des Action-Bösewichts Joker. Der fragte seinen Gegenspieler Batman, meist mit einem psychodelisch-kichernden Bass unterlegt: "Why so serious?", warum so ernst? Sagan münzt dieses Motto gerne auf sein Wirken im Radsport um, er führt tatsächlich etwas sehr Spielerisches mit sich, das dem Sport mit all seinen Leidensgeschichten oft abgeht. Der Slowake in Diensten der deutschen Bora-hansgrohe-Equipe dominierte jedenfalls auch die Etappenankünfte bei dieser Tour mit einer spielerischen Kraft, egal, ob es flach, bergauf oder sehr steil Richtung Ziel ging. Am Ende standen drei Tagessiege und sein sechstes Grünes Trikot. Das hätte er wohl schon im Vorjahr gewonnen, hätte die Jury ihn nicht zu Unrecht disqualifiziert (das sechste grüne Trikot hebt ihn auch auf eine Stufe mit Rekordsieger Erik Zabel). Erst auf der 17. Etappe war der Spaß für Sagan vorbei, "ich bin auf der Abfahrt in den Wald geflogen und mit meinem Hintern auf einem großen Stein gelandet", gab er später zu Protokoll. Er quälte sich trotzdem durch die letzte Bergetappe ("mein schlimmster Tag auf dem Rad"), so kurz vor Paris wollte er nicht aufstecken. Manchmal müssen auch Spaßvögel leiden.

Julian, der Frechste

Radsport: Julian Alaphilippe.

Julian Alaphilippe.

(Foto: Philippe Lopez/AFP)

Julian Alaphilippe ist ein Radprofi, der so fährt, wie er sich fühlt. "An einem schlechten Tag versteckt er sich im Feld", sagt sein Teamchef Patrick Léfèvre, aber wenn den 26 Jahre alten Franzosen die Lust an der Attacke packt, "dann will er gewinnen", sagt Léfèvre: "Er hat ein sehr jugendliches Charisma, sagt, was er denkt und ist witzig. Das Publikum liebt das." Manche Beobachter fanden es auch ein bisschen arg unbeschwert, wie Alaphilippe bei dieser Tour zu zwei Etappensiegen flog und sich das gepunktete Trikot des besten Kletterers sicherte. Oder wie sein Teamkollege, der Kolumbianer Fernando Gaviria, 23, zweimal die Sprintelite düpierte. Aber mit solchen Dingen hält sich der Radsport ja nicht allzu lange auf. Léfèvre, ein Teamchef aus der alten Schule und mit allen Wassern gewaschen, verweist im Gespräch auf das berühmte Scouting des belgischen Teams, und auf das Betriebsklima: "Wenn jemand ein großes Ego hat, passt er nicht zu uns." Kein Fahrer ist größer als die Mannschaft, aber jeder bekommt irgendwann seine Chance. Das Wolfsrudel, wie sie sich bei Quick-Step nennen, ist nie satt.

Lawson, der Letzte

FILE PHOTO: Tour de France

Lawson Craddock.

(Foto: Benoit Tessier/Reuters)

Lawson Craddock hatte rund 100 der diesmal veranschlagten 3300 Kilometer absolviert, da schien seine erste Tour de France schon beendet zu sein: Sturz, Schulterschmerzen, Blut, das seine linke Stirnhälfte herunterlief. Der Amerikaner schleppte sich ins Ziel, wo sie einen leichten Riss im Schulterblatt diagnostizierten. Man kann das wahlweise heldenhaft, wahnsinnig oder unverantwortlich nennen, Craddock setzte die Rundfahrt jedenfalls fort, bis zum letzten Kilometer am Sonntag. Und die Tour war um eine Leidensgeschichte reicher, die sie ausschmücken konnte. "Er fuhr mit dem Gesicht eines Kriegers und dem Lächeln eines britischen Prinzen", dichtete das Tour-Organ L'Équipe. Und merkte pflichtbewusst an, dass Craddock von der ersten bis zur letzten Etappe nach Paris an letzter Stelle des Klassements rangierte, das hatte es noch nie gegeben. Craddock war das freilich herzlich egal. Er rief das Publikum dazu auf, für das von einem Hurrikan zerstörte Vélodrom in seiner Heimatstadt Houston zu spenden; 100 Dollar zahlte er selbst für jede Etappe ein, die er überstand. Bis Paris waren mehr als 150 000 Dollar zusammengekommen, 50 000 mehr als erhofft. Da dürfte noch ein bisschen Geld übrig sein für eine Schulter-, Nacken- und Rückenmassage, sobald Craddock in die Heimat zurückkehrt.

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