Radsport:Von der Rolle zur Tour

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Nächstes Ziel von Junioren-Weltmeister Luis-Joe Lührs ist ein großes Etappenrennen, die Vuelta steht im Raum. (Foto: Peter De Voecht/Panoramic International/Imago)

Nachwuchs-Sichtung auf Datenbasis: Der Münchner Luis-Joe Lührs ist eines der hoffnungsvollsten Talente des Rennstalls Red Bull Junior Brothers, der neuerdings unkonventionelle Wege beim Scouting geht.

Von Thomas Becker

Man mag sich gar nicht vorstellen, wie gut das Essen in dieser Kantine im neunten Stock wohl schmecken mag, wenn es nicht Bindfäden regnet, so wie jetzt gerade. Bergblick in drei Himmelsrichtungen, der Wendelstein zum Greifen nah, während sich auf den Tellern eher Salatberge gebildet haben. An dicken Holztischen arbeiten nicht nur Angestellte eines Haushaltsgeräte-Herstellers an der Kalorienzufuhr, sondern hin und wieder auch Radprofis, gut zu erkennen an der schmalen Statur und eben dem Salat. Zur Vorstellung der strategischen Partnerschaft von Bora-Hansgrohe mit Red Bull sind Anton Palzer und Luis-Joe Lührs nach Raubling bei Rosenheim ins repräsentative Bora-Hochhaus gekommen. Das Thema: Nachwuchs-Scouting.

"Red Bull Junior Brothers", angelehnt an "Band of Brothers", den Slogan des Profi-Radteams, ist eine weltweite Kampagne von März bis Mai, mit Zwift- und Strava-Wettbewerben - also mit einem interaktiven Indoor-Rollentrainer. Die Fahrer sitzen auf ihrem echten Rad, auf einem Bildschirm finden virtuelle Rennen statt, die Daten werden genau erfasst. Zielgruppe: alle, die nächstes Jahr im U19-Alter sein werden. Zwei Gewinner des Scouting-Prozesses bekommen einen Red-Bull-Vertrag und einen Platz in der U19-Mannschaft von Bora-Hansgrohe - willkommen in der Welt der Nachwuchssichtung auf Datenbasis.

Bevor die besten 15 Bewerber eine Einladung zur Testwoche im Athlete Performance Center von Red Bull in Thalgau bekommen, zählen also nur die auf den Online-Plattformen Strava und Zwift festgehaltenen Werte. "Neben der reinen Watt-Zahl spielen natürlich auch andere Skills wie Taktik und Technik eine große Rolle", schränkt Christian Schrot ein, seit vier Jahren Scoutingchef bei Bora-Hansgrohe: "Strava und Zwift sind schon interessant. Daraus konnten bereits sehr gute Rennfahrer akquiriert werden, die ein klassisches Scouting gar nicht gesehen hätte. Das haben wir im Blick, ist aber sicher nicht das Haupt-Tool, eher eine Ergänzung zu den klassischen Wegen."

Neue Weg im Scouting: Auch über interaktive Indoor-Trainingsplattformen werden Talente gesucht

Die kennt Schrot aus eigener Erfahrung. Ein Talent sei er schon gewesen, "kein schlechter Rennfahrer", Mitglied der U23-Nationalmannschaft, er hat sogar ein paar Weltcup-Rennen gewonnen, sich mit 23 aber doch für ein Studium entschieden: Sportökonomie, Doktorarbeit über Trainingsoptimierung im Radsport. 2010 stieg er bei den Raublingern ein und kümmert sich seitdem um den Nachwuchs. Als Teamchef Ralph Denk mit der Idee gekommen sei, "eine World-Tour-Mannschaft zu werden", hätten das "viele belächelt", erzählt Schrot.

Doch im Lauf der Jahre hat es die erste Mannschaft von der dritten in die erste Liga geschafft. Mit dem Einzug in die World Tour wurden die Teamstrukturen erweitert, sagt Schrot: "Ich habe das Scouting übernommen von Dan Lorang, der nun Head of Performance ist. Dazu gibt es noch die Sportdirektoren-Gruppe mit Chef Rolf Aldag sowie die U23 und die U19. Wir sind schon immer über den Nachwuchs gekommen. Unsere Philosophie: Jeder ist angehalten, die Hand zu heben, wenn er ein Talent sieht. Da kommt schon viel Input."

Einer, den sie dabei kaum übersehen konnten, ist Luis-Joe Lührs, ein 20-jähriger Münchner. Sitzt man ihm und seinem Salatberg gegenüber, sieht man genau, wo der Kinnriemen des Helms verläuft - es war wohl sonnig zuletzt bei der Baskenland-Rundfahrt. "Verdammt hartes Rennen", sagt der junge Mann, "ich hab's nicht beendet, bin aber trotzdem stolz auf meine Leistung. Weil es auch vom Image her eine der schwersten Rundfahrten ist. Wir haben zwei Etappen gewonnen, und ich finde, ich habe einen guten Beitrag leisten können." Verschüchterte Anfänger klingen anders. Er hat ja auch einiges vorzuweisen: Zweiter bei EM und WM mit dem Bahn-Vierer, Sieger der Juniorenkategorie der Rad-Bundesliga, Teilnahme am Amstel Gold Race und der Tour de l'Avenir, beides keine Anfängerrennen. Sein Ziel: eine Gran Tour. "Bei mir steht heuer die Vuelta im Raum", erzählt er. Ein Kindheitstraum? "Das wäre übertrieben, weil ich so lange noch nicht Rad fahre."

Zum Radfahren kam er erst mit 13 Jahren, über seinen zwei Jahre älteren Bruder Leslie. "Ich fand es toll, meinen Bruder beim Rennen zu supporten. Nach zwei Jahren zuschauen hat es mich dann selber gepackt, ich hab' mich überwunden und gemerkt: Ist ja doch ziemlich cool." Mit 16, 17 trainiert er drei, vier Mal pro Woche, fährt internationale Erfolge ein und rückt so direkt ins Seniorenteam bei Bora-Hansgrohe. Chefscout Schrot sagt: "Er ist vor unserer Haustür aufgeploppt, war im Landeskader und ist dann bei uns im Nachwuchsteam gelandet. Gemeinsam mit der Nationalmannschaft haben wir entschieden: Wie kann der Weg sein für ihn? Mein Tipp war, dass er in der U19 noch das Bahn-Thema machen soll, damit wir Vielfältigkeit reinbekommen. Dann ist er Juniorenweltmeister in der Team-Verfolgung geworden: Das ist schon herausragend. Er hat bestochen durch seine Persönlichkeit am Rad, ist auch technisch sehr gut."

Anton Palzer ist ein sehr erfolgreicher Skibergsteiger, jetzt fährt er beim Giro d'Italia

Nach zwei Jahren im U19-Team rückte Lührs im vergangenen Sommer zu den Profis auf. Schrot erklärt: "Wir haben zwei Möglichkeiten, Talente zu entwickeln: erst U19, dann U23." Letztere ist keine hauseigene Mannschaft, sondern wird mit zwei strategischen Partnern betrieben: KTM Tirol und Lotto Kernhaus, beides kontinentale Drittliga-Teams, die U23-Fahrer fördern. "Luis war aber schon so weit entwickelt, dass wir auch den zweiten Weg gehen konnten", sagt Schrot: "Innerhalb des World Teams mit einem Entwicklungsprogramm für junge Talente, mit einem etwas anderen Rennprogramm und kleineren Rennen."

Lührs weiß noch gut, wie ihm beim Trainingslager im Ötztal der Profivertrag angeboten wurde: "Das war sehr aufregend, ich hab's kaum glauben können. Mein Bruder freut sich total für mich, wobei es normal wäre, wenn er ein bisschen neidisch ist." Nächstes Jahr will er auf jeden Fall in wärmere Gebiete umziehen, "vielleicht nach Girona, einfach um optimale Bedingungen zu haben". Zur oft immensen Härte seines Jobs sagt er nur: "Wenn man gefordert wird, entwickelt man sich am besten weiter."

Auch Quereinsteiger sind willkommen: Skibergsteiger-Weltmeister Anton Palzer aus Berchtesgaden. (Foto: Sebastian Mark/Red Bull/oh)

Die Konkurrenz aus dem eigenen Stall ist groß. 37 Saisonsiege hat das U19-Team von Bora-Hansgrohe, das "Team Auto Eder", im vergangenen Jahr eingefahren, darunter einen Welt- und einen Europameister-Titel sowie fünf nationale Meisterschaften. Zum aktuellen Kader der 16- und 17-Jährigen gehören der tschechische Meister im Straßenrennen, der belgische Meister im Zeitfahren, dazu Topfahrer aus der Schweiz, Dänemark, Ungarn, Tschechien, Estland - und Paul Fietzke, der deutsche Jugend-Straßenmeister. Und dann sind da noch Quereinsteiger wie der Berchtesgadener Anton "Toni" Palzer, 30, einer der weltbesten Skibergsteiger, der vor zweieinhalb Jahren aufs Rad umstieg und nun erstmals den Giro d'Italia bestreitet.

Den Blick über den Tellerrand erklärt Scouting-Chef Schrot so: "Wir sind ein Kraftausdauersport, wo es auch andere Disziplinen gibt, die uns nah verwandt sind, von den Bewegungsabläufen und den konditionellen Fähigkeiten: Wintersport, Leichtathletik, Mountainbike, Cyclocross." Es gelte jedoch abzuwägen: "Das bleibt sicher ein besonderer Weg. Am Ende fehlen Komponenten der Entwicklung: Taktik und Technik, im Feld fahren, sich positionieren. Wir sind als Team jedenfalls offen für solche Fahrer." Inhaber Denk finde den Weg auch gut, sagt Schrot: "Insofern habe ich in der Scouting-Abteilung auch die Freiheit, das entsprechend umzusetzen."

Nun nutzt er dabei also auch die Marketingexpertise von Red Bull. "Für die ist Radsport auch Neuland", sagt Schrot, "bislang haben sie da nur Einzelsponsoring für Wout van Aert und Tom Pidcock." Die neue Kampagne sei eine tolle Plattform für "unseren Nachwuchs, da profitieren beide Seiten. Wir sprechen damit eine deutlich größere Zielgruppe an. Ich bin gespannt auf die Resonanz, wen man da sehen wird, sogar etliche Arrivierte nehmen teil. Es herrscht schon reges Aufkommen auf den Plattformen." Der junge Rennfahrer Schrot wäre sicher dabeigewesen: "Hätte es das damals gegeben, wäre ich wahrscheinlich länger Rad gefahren."

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