Süddeutsche Zeitung

Radsport:Am letzten Tag ins Rosa Trikot

Der Giro d'Italia endet turbulent mitsamt einem finalen Zeitfahr-Duell zweier Außenseiter: Tao Geoghegan Hart aus Großbritannien holt sich den Rundfahrt-Sieg vor dem Australier Jai Hindley.

Von Johannes Aumüller, Frankfurt

Um 16.09 Uhr ist der Brite Tao Geoghegan Hart vom Team Ineos startbereit, die Augen verborgen hinter einem dunklen Visier, aber insgesamt recht ruhig wirkend, er atmet noch mal kurz durch, dann fährt er los. Drei Minuten später steht an dieser Stelle der Australier Jai Hindley aus der Sunweb-Mannschaft, bei ihm ist die Anspannung im Gesicht stark sichtbar, er geht noch mal kurz aus dem Sattel, dann beginnt auch er sein Rennen.

Hart und Hindley, das sind zwei Radprofis, die gemeinhin nicht zu den prägenden Vertretern des Pelotons gehören, aber am Sonntag sind sie die maßgeblichen Protagonisten eines ungewöhnlichen Moments. Auf die Sekunde zeitgleich lagen sie vor dem finalen Zeitfahren des Giro d'Italia an der Spitze der Gesamtwertung, nach mehr als 3500 Rennkilometern, nach einem teils irren Kampf durch Regen und Kälte und jeder Menge Corona-Chaos mitsamt diversen Positivtests und einem Fahrerstreik. Und nun sollen die letzten 15 Kilometer in Mailand alles entscheiden.

Eine solche Ausgangssituation hat es vor der letzten Etappe einer großen Landesrundfahrt noch nie gegeben, aber 20 Minuten später fällt die Entscheidung vergleichsweise eindeutig zugunsten von Hart aus. Von Beginn an wirkt seine Fahrweise stabiler, zur Zwischenzeit liegt er bereits 22 Sekunden vorne, im Ziel ist es sogar mehr als eine halbe Minute. Am letzten Tag des Giro übernimmt Hart erstmals das Rosa Trikot. "Es wird eine ganze Weile dauern, bis das bei mir angekommen ist", sagte er nach einem der größten Außenseiter-erfolge bei einer großen Landesrundfahrt: "Noch nicht einmal in meinen Träumen habe ich gedacht, dass das passieren könnte."

So war es ein angemessenes Finale eines insgesamt denkwürdigen Giro. Die Italien- und auch die Spanien-Rundfahrt bieten oft mehr Renndramatik als der Jahreshöhepunkt Tour de France. Die ließ sich diesmal mit ihrem erst spät entschiedenen Duell zwischen den Slowenen Tadej Pogacar, 22, und Primoz Roglic, 30, zwar auch nicht lumpen. Aber an den Giro 2020 kommt in Sachen Besonderheiten und Turbulenzen so schnell wohl nichts heran.

Die Sieger des Giro d’Italia seit 2010

2010 Ivan Basso (Italien)

2011 Michele Scarponi (Italien)

2012 Ryder Hesjedal (Kanada)

2013 Vincenzo Nibali (Italien)

2014 Nairo Quintana (Kolumbien)

2015 Alberto Contador (Spanien)

2016 Vincenzo Nibali (Italien)

2017 Tom Dumoulin (Niederlande)

2018 Chris Froome (Großbritannien)

2019 Richard Carapaz (Ecuador)

2020 Tao Geoghegan Hart (Großbritannien)

Das begann damit, dass er aufgrund der Neusortierung des Rennkalenders zu einer gänzlich anderen Jahreszeit als üblich stattfinden musste - und sich dann mit der Spanien-Rundfahrt überlappte. Entsprechend war die Besetzung weniger prominent, und just die paar prominenten Namen waren rasch draußen. Geraint Thomas (Ineos) stürzte schon in der Einrollphase der dritten Etappe, Sean Yates (Mitchelton) und Steven Kruijswijk (Jumbo) mussten wegen positiver Corona-Tests in der ersten Woche aus dem Rennen.

Es gab viele Zweifel, ob es der Giro-Tross überhaupt bis nach Mailand schaffen würde. Zwei Mannschaften stiegen komplett aus, der Belgier Thomas de Gendt teilte mit, er fühle sich "nicht sicher", und als am zweiten Ruhetag diverse Begleitpolizisten positiv waren, plädierte das Team EF für einen Abbruch. Aber die Organisatoren machten trotzdem weiter und passten nur die Streckenführung auf der letzten schweren Bergetappe an.

Aus diesen Corona-Rahmenbedingungen erwuchs die Unberechenbarkeit des Rennens. Die Routiniers Vincenzo Nibali (am Ende Siebter) und Jakob Fuglsang (Sechster) vermochten die Chance nicht zu nutzen; stattdessen verfestigte sich der Trend zur Jugend, der dieses Rennjahr ohnehin prägt. Der Portugiese Joao Almeida, 22, erlebte 15 Tage im Führungstrikot, und als in der Schlusswoche Wilco Kelderman, 29, als heißester Sieganwärter wirkte, erwiesen sich auf zwei schweren Bergetappen dessen Sunweb-Kollege Hindley, 24, sowie Hart, 25, als die stärksten. Die Königsetappe übers verschneite Stilfser Joch (2757 Meter) am Donnerstag entschied Hindley für sich, die Auffahrt nach Sestriere am Samstag dann Hart - beide Male fuhren sie gemeinsam und weit vor den anderen Konkurrenten ins Ziel.

Lange Etappe, mieses Wetter: Die Fahrer streiken, der Renndirektor droht

Aber erst am Samstag übernahm Hindley das Rosa Trikot, das er anderntags wieder verlor. Doch zwischen den Bergetappen lag noch ein bemerkenswerter Vorgang, und zwar nicht die Doping-Suspendierung von Matteo Spreafico, sondern eine Protestaktion der Fahrer. Für den Freitag war ein flacher, jedoch sehr langer Streckenabschnitt vorgesehen, insgesamt 260 Kilometer. Aber der Transfer zwischen den Etappenorten war lang, das Wetter extrem schlecht, also zog es die Fahrer geschlossen in die Teambusse - unter Protest über die miesen Bedingungen. Am Ende fuhr das Peloton an diesem Tag nur 124 Kilometer.

Das fügte sich ein in diverse andere Vorfälle des Jahres und verschärfte die Debatten um die richtige Interessensvertretung der Fahrer. "Ich glaube, was wir Fahrer gestern gezeigt haben, war, dass wir die Schauspieler in diesem Stück sind. Und wenn wir nicht mitspielen, dann findet auch kein Stück statt. Ich glaube, das war eine wichtige Message, auch an den Veranstalter", sagte der Sprinter Rick Zabel der ARD.

Giro-Direktor Mauro Vegni hingegen war erzürnt. "Es gibt keine Entschuldigung für das, was passiert ist. Die Fahrer haben nicht Recht", sagte er - und drohte mit dem Einsatz von Anwälten: "Diese Aktion macht alles kaputt, was wir bisher erreicht haben. Lasst uns nach Mailand fahren. Wenn das erledigt ist, wird jemand dafür bezahlen müssen." Der ungewöhnliche Giro könnte also noch ein Nachspiel haben.

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Quelle:
SZ vom 26.10.2020
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