Süddeutsche Zeitung

Rad-WM:Martin will sich nach Wirbelbruch selbst belohnen

Von Barbara Klimke, Innsbruck

In Fügen, hoch überm Tal, hat Tony Martin sein Idyll entdeckt. Es störte ihn nicht, dass im Teamhotel abends eine Festzeltkapelle aufspielte. Die Schunkelei, die dröhnende Gemütlichkeit nahm er mit distanziertem Lächeln zur Kenntnis.

Herunterdimmen, Ausblenden, Konzentration auf Wesentliches, auf das Panorama im Zillertal beispielsweise: Das sind die Disziplinen, die Tony Martin, Radprofi und Zeitfahrspezialist, in Perfektion beherrscht; "im Tunnel sein", hat Boris Becker, ein Meister der Metapher, diesen entrückten Zustand mal genannt. Martin, ein Mann der präzisen Worte, hat eine andere Sprachregelung gefunden: "Ich bin im Weltmeisterschaftsmodus." Ohnehin, sagte er, trübe nichts seine Ruhe, weil sein Hotelzimmer im Nebengebäude liegt.

Zum Weltmeisterschaftsmodus gehört für Martin, 33, den Highspeed-Spezialisten, der viermal Champion im Einzelzeitfahren war, dass er lange vor dem Rennen an diesem Mittwoch (ab 14.10 Uhr) angereist ist. Seit einer Woche ist er die 52,5-Kilometer-Distanz im Inntal immer wieder abgefahren. Einen Kurs, dessen Profil ihm nur zu 90 Prozent entgegenkommt, wie er erläutert. Die Schlüsselstelle wird ein drei Kilometer langer Anstieg nach Gnadenwald bei Wattens sein, ein Teilstück mit bis zu 14 Prozent Steigung, das selbst Bergwanderer mit strammen Waden in Tirol vor eine ordentliche Prüfung stellt. Letztlich lohnen sich die Strapazen für Martin nur, wenn er erneut eine Medaille gewinnt: "Das ist mein Ziel. Ich fahre hier nicht um Platz vier oder fünf oder sechs. Ich freue mich ab Platz drei", sagte er. Den Rest werde er akzeptieren müssen. "Aber in Ordnung ist es nicht."

Ein Rad-Champion wie Tony Martin erlaubt sich keine mildernden Umstände mehr, wenn er erst einmal im Weltmeisterschaftmodus ist, im Tritt - oder in Trance. Auch den Fakt, dass er sich gerade erst von einer beängstigenden Diagnose erholte, lässt er als Entschuldigung nicht gelten: "Ich verstecke mich nicht hinter meiner Verletzung", stellte er klar. Dabei ist er den Sommer über kein Rennen gefahren, seit er auf der Tour de France schwer stürzte. Erst im September bei der Tour of Britain gab er sein Comeback im Team Katusha-Alpecin, das er zum Saisonende verlässt.

Martin habe bei seinem Sturz enormes Glück gehabt

Das letzte Bild zuvor zeigte ihn, wie er sich auf der 8. Etappe der Frankreichrundfahrt die Stufen des mobilen Röntgenwagen herunter tastet: mit nacktem Oberkörper, blutender Schulter und genähter Lippe. Im Krankenhaus stellten die Ärzte einen Wirbelbruch fest. Zwei Wochen wurde Tony Martin ruhig gestellt, berichtete sein Erfurter Manager Jörg Werner: Der Wirbel war gebrochen, aber nicht verschoben; das Rückenmark, so Werner, war nicht angegriffen. Natürlich habe Martin enormes Glück gehabt, sagte der Manager, der auch die Bahnrad-Olympiasiegerin Kristina Vogel betreut, die im Juni im Cottbuser Radstadion bei einem Sturz eine so schwere Wirbelverletzung erlitt, dass sie nie wieder wird gehen können. Werner ist nicht zur WM gereist, weil er glaubt, dass Kristina Vogel seine Hilfe derzeit mehr benötigt. "Und Tony", ergänzte er, "ist erfahren. Er weiß, was er sich zumuten kann."

Sein Bruch sei auskuriert, sagte Martin, als er im Hotel vor Journalisten saß, "alles bestens". Er hat das Thema von sich aus nicht weiter vertieft. Vielleicht gehört auch das zu den Dingen, die ein viermaliger Weltmeister herunterdimmen und ausblenden muss. Um sich in seinem Beruf als Radrennfahrer ganz auf den Kampf gegen die Uhr konzentrieren zu können. Auf das WM-Straßenrennen am Sonntag wird er trotzdem verzichten. Sicherheitshalber.

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Quelle:
SZ vom 26.09.2018/schma
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