Rad-Weltmeisterschaft:D'Artagnans Schachzug

Puncheur, Publikumsfavorit, nun Weltmeister - Frankreichs Radprofi Julian Alaphilippe gewinnt auf die Art, für die er beliebt ist: mit einem draufgängerischen Antritt.

Von Johannes Aumüller, Imola/Frankfurt

Die französische Fan-Gemeinde brauchte in den sozialen Netzwerken nicht lange, um dem Erfolg ihres großen Lieblings den angemessenen sporthistorischen Anstrich zu geben. So lange hatte sie schon auf einen Triumph eines Franzosen gewartet, seit Mitte der Neunzigerjahre, um genau zu sein. Aber am Sonntagabend bei der Rad-WM rund um Imola, die auf dem berühmten dortigen Formel-1-Kurs zu Ende ging, kam Julian Alaphilippe daher - und erwies sich als der erste Franzose, der auf der Rennstrecke von Imola gewinnen konnte, seit Alain Prost 1993 im Williams-Renault-Boliden.

Das war zwar einerseits nur ein netter statistischer Gag nach Julian Alaphilippes Sieg am Ende eines harten 260-Kilometer-Rennens; dem ersten eines französischen Radsportlers bei einer WM seit 1997 im Übrigen. Andererseits erschien es gar nicht unpassend, dass just der 28-Jährige in den Genuss dieses Automobilsport-Vergleichs kam. Denn Alaphilippe ist jemand, den man sich durchaus gut am Steuer eines sehr schnellen Rennwagens vorstellen kann. Sehr draufgängerisch kommt er oft daher, angriffslustig und exzentrisch, und als jemand, der dazu neigt, das Limit auszureizen. Musketier des Pelotons, Rock'n'Roller des Radsports, solche Etikettierungen umgeben ihn seit Jahren, und künftig darf D'Artagnans Erbe also in dem berühmten Regenbogentrikot fahren, das im Radsport seit 93 Jahren als Erkennungsmerkmal des Weltmeisters dient. "Heute wurde ein Traum wahr", teilte Alaphilippe mit einem Schluchzen in der Stimme mit.

IMOLA, ITALIA - SEPTEMBER 27 : ALAPHILIPPE Julian (FRA) during the Men Elite Road Race at the UCI 2020 Road World Champi

Schnellster Radfahrer auf der Formel-1- Strecke von Imola: der Franzose Julian Alaphilippe.

(Foto: imago)

Es war durchaus eine seiner typischen Aktionen gewesen, mit der sich der Mann aus dem zentralfranzösischen Städtchen Saint-Amand-Montrond diesen Erfolg sicherte. Kurz vor der Kuppe des letzten Berges, der Cima Galisterna mit Passagen von bis zu 13 Prozent Steigung, trat er an und distanzierte alle Konkurrenten; die anderen späteren Medaillengewinner Wout Van Aert (Belgien, Silber) und Marc Hirschi (Schweiz, Bronze) ebenso wie den deutschen Kapitän Maximilian Schachmann, der am Ende eines guten Rennens auf Platz neun ins Ziel kam. In diesem Stil der Puncheure hat Alaphilippe in den vergangenen Jahren oft triumphiert, bei Klassikern wie Mailand - Sanremo oder der Clásica San Sebastián sowie bei insgesamt fünf Etappensiegen während der Tour de France. Aber diesmal wirkte die Attacke mitsamt anschließender zwölf Kilometer langer Solofahrt doch besonders, denn Alaphilippe hat ein ungewöhnliches Jahr hinter sich.

Im Juni war sein Vater Jacques gestorben, just an dem Tag, an dem die Tour de France ursprünglich in Nizza losrollen sollte. Zwei Monate später fuhr Alaphilippe bei der Frankreich-Schleife auf der zweiten Etappe ins Gelbe Trikot, saß schluchzend am Bordsteinrand, um dem Papa im Himmel den Sieg zu widmen, und half mit, die Tour aus der Corona-Tristesse zu befreien. Das Führungsshirt musste er zwar ein paar Tage später nach einer Zeitstrafe für einen seltsamen Anfängerfehler (Verpflegung in einem unerlaubten Moment) wieder abgeben, und auch insgesamt wirkte er bei der Rundfahrt weniger stark als in den Vorjahren, als er sich das Bergtrikot sicherte, 14 Tage in Gelb verbrachte oder auf Gesamtrang fünf fuhr. Aber womöglich hatte das auch damit zu tun, dass Alaphilippe auf der Fahrt über Frankreichs Straßen schon an diesen Tag rund um die Rennstrecke von Imola dachte.

Die 20 Rad-Weltmeister seit 2001

2001 Oscar Freire (Spanien)

2002 Mario Cipollini (Italien)

2003 Igor Astarloa (Spanien)

2004 Oscar Freire (Spanien)

2005 Tom Boonen (Belgien)

2006 Paolo Bettini (Italien)

2007 Paolo Bettini (Italien)

2008 Alessandro Ballan (Italien)

2009 Cadel Evans (Australien)

2010 Thor Hushovd (Norwegen)

2011 Mark Cavendish (Großbritannien)

2012 Philippe Gilbert (Belgien)

2013 Rui Costa (Portugal)

2014 Michał Kwiatkowski (Polen)

2015 Peter Sagan (Slowakei)

2016 Peter Sagan (Slowakei)

2017 Peter Sagan (Slowakei)

2018 Alejandro Valverde (Spanien)

2019 Mads Pedersen (Dänemark)

2020 Julian Alaphilippe (Frankreich)

"Ich bin mit viel Ehrgeiz hierher gekommen. Ich habe mich bei der Tour schon auf die WM fokussiert", gab er nach dem Rennen jedenfalls zu Protokoll - und auch diesmal blickte er während der Zielüberfahrt und der Siegerehrung wieder lange nach oben "Pour l'amour du ciel" titelte die L'Équipe - um Himmels willen.

Alaphilippe zählt mit seiner Art durchaus zu den Ausnahmeerscheinungen im Peloton; viele Spitzenfahrer wirken eher blass, erst recht neben der Strecke, Alaphilippe hingegen ist vergleichsweise charismatisch. Nicht umsonst ist er schon seit Langem der Liebling der Franzosen, Spitzname "Loulou". Das mit dem Rock'n'Roller-Image liegt nicht nur an seinem Erscheinungsbild, sondern hat auch eine musikalische Fundierung - Alaphilippe spielte auf Impuls seines Vaters Jacques lange Schlagzeug und in einer Band, ehe er sich für die Rad-Karriere entschied.

Es dürfte auch nicht sein letzter Triumph bei einem schweren Rennen gewesen sein. Schon am kommenden Wochenende will er bei Lüttich - Bastogne - Lüttich reüssieren. Nur bei einer Sache dürfte Alaphilippe seinen Landsleuten nicht weiterhelfen können: deren Sehnsucht, dass es erstmals seit 1985 wieder einen französischen Tour-de-France-Sieger geben könnte. Als er im Vorjahr etwas unerwartet zwei Wochen lang der Spitzenreiter war, keimte schon die Hoffnung, er könne derjenige werden, der den Fluch beendet. Doch zuletzt gab Alaphilippe zu verstehen, dass das eher eine Ausnahme gewesen sein dürfte und er weiter den Puncheur mimen wird.

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