Wer sich in den Juli-Tagen 2012 in London über letzte Olympia-Vorbereitungen informieren wollte, musste sich in der englischen Presse erst durch seitenlange Huldigungen auf einen gewissen Bradley Wiggins wühlen. Der Radprofi hatte die Tour de France gewonnen, als erster Brite, und die Nation damit kurz vor den Sommerspielen in den passenden Siegtaumel versetzt. Auch bei Olympia holte er dann Gold für England, im Zeitfahren: Sir Bradley Wiggins darf er sich seitdem nennen. Noch im olympischen Jubeljahr hatte ihn Queen Elizabeth zum Ritter geschlagen - den Mann, der mit insgesamt acht Medaillen, darunter fünf goldenen, Britannias erfolgreichster Olympionike ist.
Tour de France:Team Sky scheitert am eigenen Anspruch
2009 trat die Équipe an, um den Radsport transparenter zu machen. Doch inzwischen stapeln sich die Merkwürdigkeiten rund um das Team von Tour-Leader Christopher Froome.
Ein nationales Helden-Epos. Und nun steht es kurz davor, pulverisiert zu werden. Am Sonntag legte der parlamentarische Sonderausschuss für Digitales, Kultur, Medien und Sport (DCMS) einen desaströsen Bericht vor. Das Gremium betrachtet es als erwiesen, dass sich Wiggins und mutmaßlich auch dessen Helfer im Profirennstall Team Sky für jene Tour mit leistungssteigernden Kortikoiden gerüstet hatten. Das sei mit infamer Raffinesse geschehen, unter dem Deckmantel von medizinischen Ausnahmegenehmigungen (TUEs).
Der Fall ist mühsam zu klären, auch weil der britische Radverband kaum kooperiert
Der Dreh, sich via TUEs Zugang zu sonst verbotenen Wirkstoffen zu verschaffen, scheint nach Enthüllungen in den vergangenen Jahren gerade in europäischen und nordamerikanischen Ländern sehr beliebt zu sein. Was vom Teamarzt krankheits- oder nur vorteilsbedingt beantragt wird, lässt sich ja schwer auseinanderhalten. Umso auffälliger wirkt es, wenn scharenweise Spitzenathleten schwere Erkrankungen reklamieren, die bei der Erbringung von Topleistungen eher hinderlich sein müssten.
Vorzugsweise geht es bei TUEs um Asthma-Mittel, so auch im Fall Wiggins/Sky. Beantragt wurde ein im Wettkampf verbotener Wirkstoff, der zur Behandlung von Allergien und Atemwegserkrankungen dient. Kurz vor den Tour-Rennen 2011 und 2012 sowie dem Giro d'Italia 2013 hatte der Brite TUEs für Triamcinolon erhalten. Das Ziel sei dabei aber, laut DCMS-Report, nicht gewesen, "medizinische Probleme zu behandeln, sondern das Verhältnis von Kraft und Gewicht vor dem Tour-Rennen zu verbessern". Die Politiker folgern: Formal läge kein Verstoß gegen Regeln der Welt-Anti-Doping-Agentur vor, klar überschritten worden sei aber "eine ethische Linie, die (Teamchef) David Brailsford für die Profis des Teams Sky selbst gezogen hat".
Bradley Wiggins wies alle Vorwürfe zurück. "Menschen können beschuldigt werden, Dinge getan zu haben, die sie nie taten und die dann als Tatsachen betrachtet werden", twitterte er, "ich weise die Behauptung entschieden zurück, Medikamente ohne medizinische Notwendigkeit eingenommen zu haben." Sky erklärte: "Wir sind überrascht und enttäuscht, dass das Komitee eine anonyme und böswillige Behauptung veröffentlicht, ohne dass irgendwelche Beweise präsentiert oder uns Möglichkeit zur Antwort eingeräumt werden." Doch von diffusen Behauptungen und vagen Belegen wirkt die Causa Sky weit entfernt. So wird im Report der frühere Sky-Trainer Shane Sutton zitiert, der die TUE-Missbrauchsthese stützt: "Was Brad tat war unethisch, aber nicht gegen die Regeln", erklärte er.
Offen bleiben noch mehr Fragen. Etwa die, ob Wiggins auch schon 2011 beim Criterium du Dauphine Triamcinolon injiziert bekam - oder war es das legale Fluimucil, wie er und Sky behaupten? Dieser Vorfall wäre, da ohne TUE erfolgt, in jedem Fall Doping. Ungeklärt ist der Inhalt des damals an das Team gelieferten Arzneipakets. Der Report moniert hier explizit, Sky habe "keine verlässliche Beweise" vorgelegt, dass dieses Paket Fluimucil beinhaltet habe.
Generell kritisiert der Bericht das Fehlen akkurater Daten zur Medikation der Sky-Profis. Passend dazu rügt die britische Anti-Doping-Agentur Ukad den Kooperationswillen des Verbands British Cycling. Ins Bild passt ein Vorfall um den umstrittenen Verbandsarzt Richard Freeman: Der hatte Wiggins' Medizin-Daten auf einem Laptop: welcher leider geklaut wurde, als er 2014 in der Ägäis urlaubte. Zu allem Unglück gab es keine Sicherungskopien. Zur DCMS-Anhörung erschien Freeman nicht, wegen Gesundheitsproblemen quittierte er im Herbst den Job beim Verband.
Hat der Verband die illegalen Testosteron-Pflaster 2011 doch absichtlich angefordert?
Es gibt eine ganze Reihe weiterer Mysterien um das selbsternannte Saubermann-Team der jüngsten Dekade. Das britische General Medical Council (GMC) befasst sich seit geraumer Zeit mit Freemans Umtrieben, dem glücklosen Griechenland-Urlauber soll 2011 noch mehr verbotene Ware zugekommen sein. Damals wurden strikt verbotene Testosteronpflaster an das Velodrom in Manchester geliefert, das Hauptquartier von Sky und British Cycling. Ein Liefer-Irrtum, behauptete Freeman, man habe die heiße Ware sofort zurückgeschickt und die Versorgerfirma gebeten, das per Mail zu bestätigen. Nun beklagt British Cycling, die Firma kooperiere nicht bei der Aufklärung, und erwägt einen Wechsel. GMC und Ukad sehen das anders - und jüngst berichtete die Daily Mail, den Ermittlern lägen Hinweise vor, dass diese Testosteronpflaster nicht irrtümlich, sondern tatsächlich auf eine Mail-Anfrage aus Manchester verschickt worden seien.
All das krönt der Positivbefund bei dem Mann, der Wiggins' Nachfolge antrat: Chris Froome, Tour-Sieger 2013, 2015, 2016 und 2017. Dem Briten wurde bei der Vuelta im Vorjahr Salbutamol weit über dem Grenzwert nachgewiesen. Die Erklärung, sein Asthma-Leiden habe sich beim Rennen - das er souverän gewann - verschlimmert, bedarf noch eines medizinischen Nachweises. Auf die Expertise sind unabhängige Fachleute - wie just im Sport stets betont werden muss - schon sehr gespannt. Froomes Verteidiger deuteten bereits eine Nierenfehlfunktion an. Erstaunlich, welche Mühen so ein Superteam wie Sky zu überwinden hat: Geklaute Laptops. Testosteron-Irrläufer im eigene Hauptquartier. Und Sporthelden, die trotz schwerer Erkrankungen von Sieg zu Sieg radeln.