Süddeutsche Zeitung

Publikum der Fußball-Nationalmannschaft:Pfostenschuss ist nicht gleich Pfostenschuss

Das deutsche Fußballpublikum quittiert Schwächephasen der Nationalmannschaft oft mit Schweigen oder sogar Pfiffen. Schmerzhafte Erinnerungen an Italien und Schweden belasten die Fans. Doch Chancen zur Vergangenheitsbewältigung nahen.

Ein Kommentar von Christof Kneer

Reus, Götze, Gündogan, Reus: Das wäre ein schönes Länderspiel für Dortmund gewesen. Alle vier Tore aus stadteigener Produktion, dazu ein ehrenvolles Remis in der Startformation (vier Dortmunder, vier Bayern), und dann noch ein paar kesse Spielzüge auf dem Rasen, die Dortmunds Geschäftsführer Watzke bestimmt an BVB-Fußball erinnert hätten, was er hinterher bestimmt in alle Kameras gesagt hätte. Am Ende wäre das Spiel gegen Kasachstan beim Stand von 6:0 oder 7:1 abgepfiffen worden, und vermutlich hätte auch jener Teil Deutschlands, der nicht zu Dortmund gehört, das Gefühl gehabt, Zeuge eines bunten Abends gewesen zu sein.

Das Länderspiel fand aber in Nürnberg statt, und das Gefühl eines bunten Abends beschlich am ehesten den Torwart der Kasachen, den die vielen Dortmunder ziemlich berühmt schossen im Laufe dieser 90 Minuten. Ansonsten hatte die deutsche Mannschaft immer wieder das Gefühl, sie müsse sich für etwas entschuldigen.

Über weite Strecken wurde sie von den Rängen mit wohlwollendem Schweigen begleitet, später mit teilnahmslosem, dann mit grummelndem Schweigen und am Ende gar mit Pfiffen - vor allem, wenn der Torwart Neuer es wagte, am Spiel teilzunehmen.

Es hat in der DFB-Länderspielgeschichte immer Stadien gegeben, in die die jeweiligen Trainer mit mehr oder weniger Begeisterung gereist sind. Der Teamchef Beckenbauer regte einst empört einen Hamburg-Boykott an, geprägt vom WM-Spiel 1974 gegen die DDR und dem EM-Halbfinale 1988 gegen die Niederlande. Inzwischen hat das einstmals zugige Volksparkstadion eine neue Architektur und längst seinen Frieden gemacht mit dem DFB.

Auch in der traditionsreichen Fußballstadt Nürnberg prüfen sie gerade den Umbau ihres Stadions, in dem es ja auch schon stimmungsvolle Abende zu erleben gab. Diesmal aber hatten die fränkischen Zuschauer unnötigerweise beschlossen, dem ehemaligen Schalker Neuer seine bayerische Klubzugehörigkeit zu verübeln - womöglich haben sie ihn auch stellvertretend für alle Schalker ausgepfiffen, mit denen die Nürnberger eine innige Fan-Freundschaft unterhalten.

Das alles darf dem Bundestrainer zurecht missfallen, aber er ahnt, dass hinter dem Grummeln in der Kulisse mehr stecken könnte als Fanfolklore und Stadionarchitektur. Löw spürt, dass die Kundschaft nach den einschneidenden Erlebnissen des Vorjahres ein bisschen das Urvertrauen in diese Elf verloren hat. Seit dem 1:2 gegen Italien und dem 4:4 gegen Schweden wertet das Publikum einen Pfostenschuss nicht mehr einfach als Pfostenschuss, sondern als Anlass, gleich wieder die Peiniger Balotelli und Ibrahimovic auferstehen zu lassen. Dieses Hintergrund-Rauschen könnte Löws Elf durchs Jahr 2013 begleiten, an dessen Ende sich aber die Chance zur Vergangenheitsbewältigung bietet. Im Oktober spielt Deutschland bei Ibrahimovics Schweden. Für November wird ein Testspiel gegen Balotellis Italiener geprüft.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1635103
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 28.03.2013/jom
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.