Süddeutsche Zeitung

Public Viewing bei der Fußball-WM:Einsamkeit der Liebenden

Die Liebe zum Fußball ist etwas Intimes, sie gipfelt in der Weltmeisterschaft. Doch mit dem Anpfiff wird dieses Intime, diese Stille, auf das Lauteste zerstört. Schuld ist das Public Viewing. Ein Plädoyer fürs Alleineschauen.

Von Moritz Rinke

Die schönste Zeit der WM ist vor der WM. Im Februar, März, wenn die Bundesliga aus der Winterpause zurückgekehrt ist; wenn die Champions-League in die Finalrunden geht; wenn der Bundestrainer zunehmend auf den Tribünen der Stadien sitzt und die Spieler beobachtet, und wir, die Liebenden, sie mitbeobachten: Spielt Schweinsteiger wirklich beschwerdefrei? Kann Özil seine Form der Hinrunde bei Arsenal halten? Wie läuft Khediras Reha? Kommt Hummels nach seiner Blessur im Fußwurzelgelenk wieder rechtzeitig auf den alten Leistungsstand? Ebenso Reus nach Muskelfaserriss?

Die Zeit vor der WM ist die sensibelste Zeit der WM, die zarteste. Wir Liebenden schauen nachdenklich auf Formkurven und Fußwurzelgelenke, auf Khediras Knie und beschwören heimlich den Bundestrainer: Nimm auch Kießling mit! Versuch nicht den Guardiola in Brasilien zu geben, das werden keine laufintensiven Spiele bei der Hitze werden, also nimm noch einen Stoßstürmer mit, löse dich von der Mode der falschen Neun, überbrücke schnell das Mittelfeld, spielt auch mal hohe Bälle, lass Kroos bloß nicht wieder, wenn's drauf ankommt, auf der 6 spielen, der reißt zu große Lücken!

Dann kommt der April und die zarte Beobachtung weicht der wachsenden Unruhe: die Halbfinal-Spiele der Bayern, das Debakel gegen Real Madrid und die Sorge der Liebenden um die Psyche der deutschen Spieler: Ist Neuer gebrochen? (4 Real-Chancen = 4 Real-Tore). Ist Boateng gebrochen? (Fehler, Fehler!) Ist Müller gebrochen? Sind die ganzen Bayern und damit die Deutschen gebrochen?

Im Mai fiebern wir Liebenden dann der ersten Nominierung des WM-Kaders entgegen. Ich sitze auf der Europäischen Schriftstellerkonferenz, öffne heimlich meine App und scrolle unterm Stuhl aufgeregt den Kader durch: Gomez nicht dabei! Nur Kevin Volland und Klose!? Ich hatte die ganze Zeit keine Ahnung, wie ich mich auf der Schriftstellerkonferenz substanziell einbringen könnte, doch nun würde ich am liebsten aufstehen und "Nur Volland und Klose!" verkünden und "Kießling!" fordern.

Der Mai ist für uns Liebende der Monat der Verdichtung, wir meinen schon zu ahnen, worauf es hinausläuft. Täglich lesen wir nun die Berichte aus dem Trainingslager in Südtirol, registrieren neue Verletzte, googeln Heilungsprozesse von Kapselrissen in Sprunggelenken und Schultern (Lahm und Neuer!); warten darauf, wie Löw die Sache mit Großkreutz klärt, der nach dem Pokalfinale im Hotel gegen eine Säule pinkelte; und wir freuen uns mit Mertesacker, der Vater wurde, denn das müsste doch beflügeln.

Und dennoch haben wir schon eine klare Prognose für die WM: die ganzen Verletzungen, das Klima, die zu späte Anreise, die mangelnde Varianz im Kader des Bundestrainers - oh, oh, wie schwer das wird . . . Und wir kennen ja auch die Favoriten: Spanien, immer wieder Spanien, Italien, Brasilien, Argentinien trotz des kränkelnden Messi, die starken Niederländer mit Robben, die Belgier, die Chilenen, abgesehen davon, dass uns Klinsmann und Berti Vogts mächtig ärgern werden in der Gruppenphase.

Drei Wochen vor der WM haben wir Liebenden die WM schon durchgespielt, immer konzentriert, immer unter uns, in Fachgesprächen. Doch Anfang Juni wird diese Stille, das so Intime, auf das Lauteste zerstört: Überall hängen jetzt die Autos, Imbissbuden, Bars, Tankstellen, Elektro- und Supermärkte und Apotheken voller Bälle und Fahnen, schießen einem die Wurfsendungen mit schwarzrotgoldenen Fanartikeln von Aldi bis Lidl um die Ohren, wird in Berlin die Straße des 17. Juni abgesperrt, um das vorzubereiten, was das absolut Fürchterlichste für den Liebenden ist: das Public Viewing!

Wenn das Public Viewing losgeht, können die Liebenden auswandern, in die Emigration gehen! Plötzlich wird unsere Liebe getrübt und unser Land von Menschen besetzt, die sich alle zwei oder vier Jahre vor riesige Leinwände setzen, ihre Kommentare abgeben oder noch schlimmer, uns ab dem Achtelfinale schamlos die Sicht versperren.

Jahrelang haben wir Liebenden jeden Samstag die Liga verfolgt, den Pokal, jede Runde, auch die Europa-League, ja, wir haben nichts ausgelassen, sogar die Relegationsspiele zum Aufstieg in die Zweite Liga, weil wir nicht anders können: Fußball ist keine Unterhaltung, Fußball ist eine Lebensform, eine Religion, eine Konterreligion, ich kenne keine bessere, nebenbei gesagt.

Kaum ist sie da, nimmt man sie uns weg

Und natürlich freuen wir uns wie Kinder auf das ganz, ganz Große, die Messe aller Messen, die WM, denn schließlich richten wir die Phasen unseres Lebens im Rückblick an WM-Turnieren aus. Wenn mich zum Bespiel jemand fragt, wann ich Abitur gemacht habe, dann fällt mir die von Toni Schumacher unterlaufene Flanke im Finale 1986 in Mexiko ein! Jede WM ist ein Orientierungspunkt, ein Parameter, im Leben eines Liebenden gibt es davon vielleicht 17 bis 20, je nach dem - und sie sind viel einprägsamer als die Zeitabschnitte gewöhnlicher Liebesaffären.

So ist das also mit den Fußballliebenden und der WM. Aber kaum ist sie da, da nimmt man sie uns weg, denn seit dem Public Viewing wimmelt es nur so von Grapschern. Überall diese selbsternannten, übermotivierten Experten, Simulanten und Blender, die glauben, ihren Freundinnen "die falsche Neun" erklären zu können und ständig "Abseits" oder "Pressing!" dazwischen brüllen, weil sie meinen, die Welt von ihren Kenntnissen überzeugen zu müssen.

Ich habe nichts gegen Menschen, die nichts vom Fußball verstehen, im Gegenteil: "Wir sollten sie ehren", schreibt der Fußballliebende und Philosoph Wolfram Eilenberger in seinen "40 Flanken der Fußballphilosophie", "Wir sollten sie ehren, denn dadurch ehren wir unsere Liebe umso mehr."

Ich finde es angenehm, bei meinem Italiener zu sitzen und mit dem Wirt die Spiele der Serie A zu schauen, während die Nicht-Interessierten nur essen, ihre Gespräche fortführen und die Serie A keines Blickes würdigen; ich finde, das ist ehrlich, authentisch, würdig.

Bei der WM ist aber nun nichts mehr authentisch, da denkt jeder, "Oh, Event!", und dann werden die Backen mit den Landesfarben bemalt, werden die Autospiegel wie mit schwarzrotgoldenen Kondomen bezogen, zwängen sich die fettesten Mitbürger in "Götze" oder "Müller"-Trikots und gehen zum Public Viewing.

Ich erinnere mich an eine Szene bei der letzten EM, in der ein deutsch-türkischer Freund von mir beim Spiel gegen Italien von Public Viewern mit einer Deutschlandfahne eingewickelt wurde, so als ob er einer fiesen Spinne ins Netz gegangen sei. Völlig ängstlich saß er zwischen den Eventnationalen und traute sich kein gutes Wort mehr über den großartigen Balotelli zu sagen.

Ja, die Eventnationalen! Beim Public Viewing in Berlin, wo ich einmal wegen einer offiziellen Verpflichtung auf dem Podium anwesend sein musste, stieß mich auf der gemieteten Event-Toilette ein von oben bis unten schwarzrotgold eingeölter Eventnationaler fast ins Pissbecken (Public Peeing?!).

Ich sagte, ganz in zivil, "Hallo?", und er warf mir einen Chinaböller vor die Füße, danach gab es einen widerlichen Knall. "Warum machst du das?", fragte ich, er schrie nur "SCHLAND" und lief wieder zum Public Viewing.

Dieser Knall auf der Eventtoilette mit einer Lautstärke von bestimmt 120 Dezibel, bei der jedes deutsche Kaninchen tot umgefallen wäre, dieser Krach, dieser SCHLANDKRACH ist für mich Public Viewing.

Natürlich freue ich mich, wenn die Deutschen ein gutes Spiel machen, ich freue mich gerade für die Generation Schweinsteiger-Mertesacker & Co, wenn sie in Brasilien etwas erreichen könnten, aber dieser Schlandkrach, das kann ich nicht. Theoretisch finde ich Fahnenwinken, finde ich Patriotismus sogar schön. Das Public Viewing allerdings nicht. Es kommt mir vor, als säße ich im Bordell vor so einem komischen aufgeblasenen Busen und müsste jetzt hau ruck loslegen . . . nein, lieber nicht. Ich schaue lieber zu Hause die Spiele.

Das Public Viewing mit seinem aufgeblasenen Patriotismus hat etwas Destruktives. Es tötet echte Anteilnahme. Es kann sogar so weit kommen, dass man das eigene Team scheitern sehen will und man wünscht, dass wir schon in der Gruppenphase rausfliegen, von Ghana gedemütigt, nur damit endlich wieder Ruhe ist. Was für eine absurde, traurige Verkehrung! Die ganze Zärtlichkeit, das Interesse an Fußwurzelgelenken und Formkurven, unsere Hingabe und Liebe für den Kader - wie weggeblasen, weggepresst von lauten Menschen, die alle vier Jahre vorgeben, unser Spiel zu lieben, aber sie lieben es nicht, sie wollen nur das Drumherum, die billigen aufgespritzten Reize.

Des Kaisers Stille

Kürzlich war ich bei "Sky" zur Champions-League-Sendung nach Ismaning eingeladen, meine Gesprächspartner waren Reiner Calmund und Franz Beckenbauer. Den Kaiser hatte ich bisher noch nie getroffen, ich war wirklich aufgeregt. Die Spiele ZSKA Moskau - Bayern München und Leverkusen - Manchester United schauten wir nicht im Studio, sondern im Aufenthaltsraum.

Herrlich, wie Beckenbauer das Spiel betrachtete. Wache Augen, kein Wort zu viel, nur Calmund sagte immer mal was, das liegt in seiner Natur. Ich bildete mir sogar ein, dass Beckenbauer meine Art, das Spiel zu schauen, mochte. Manchmal blickte er etwas unwillig zu Calmund, wenn der wieder etwas sagte, dann schauten wir wieder beide in schönster Stille auf das schneebedeckte Spielfeld in Moskau.

Wochen später sah ich ein Foto von Beckenbauer und mir auf dem Sofa, die bezaubernde Sky-Assistentin Zerrin hatte es heimlich gemacht. Auf dem Foto hatte Beckenbauer, offenbar unbewusst, seinen Arm um mich gelegt und dort eine Halbzeit lang liegen gelassen. 45 Minuten saßen wir schweigend so da, Calmund war draußen und telefonierte lange mit Leverkusen. Ab und an sagte Beckenbauer "Gut" oder "ach" und "hm". Mehr nicht, es war herrlich.

An dieses stille schöne Schauen mit Beckenbauer werde ich denken, wenn jetzt die WM so dumpf und lärmend über uns Liebende hinwegrollt.

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Quelle:
SZ vom 07.06.2014/jom
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