Prothesen-Weitspringer Markus Rehm:8,24 Meter und nicht weiter

Bittere Nachricht für Prothesen-Weitspringer Markus Rehm: Der Deutsche Leichtathletik-Verband nominiert ihn nicht für die Europameisterschaft. Es ist eine politische Entscheidung, die viel erzählt über menschliche Bewegung.

Von Thomas Hahn, Frankfurt

Es dauerte eine Weile am Mittwoch, bis die Herren des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) erklärten, dass der Prothesen-Weitspringer Markus Rehm keinen Platz im Team für die EM vom 12. bis 17. August in Zürich bekommt. Sportdirektor Thomas Kurschilgen wollte bei der Pressekonferenz zur EM-Nominierung in Frankfurt am Main erst mal Ziele und Ansprüche der großen, 93-köpfigen Mannschaft für die Kontinental-Titelkämpfe erläutern.

Präsident Clemens Prokop wollte herausstellen, dass sein Verband Inklusion, die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben, sehr wichtig nehme. Cheftrainer Cheick-Idriss Gonschinska, der als dritter Redner endlich die spannende Personalie bekanntgeben sollte, wies erst mal auf den "verantwortungsvollen Abwägungsprozess" hin, der jeder Nominierung vorausgehe.

Aber irgendwann waren die Verbandsleute dann doch beim Thema. Von den vier Athleten, welche den EM-Qualifikations-Standard von 8,05 Meter übersprungen haben, werden der frühere Europameister Christian Reif, der Hallen-Europarekordler Sebastian Bayer und der Karlsruher Julian Howard nominiert. Nicht der Prothesen-Springer Markus Rehm, 25, aus Leverkusen, der am Samstag in Ulm mit der Weite von 8,24 Metern deutscher Meister der Leichtathleten ohne Behinderung geworden war. Gonschinska nannte den Beschluss eine "adäquate sportfachliche Entscheidung".

Es war eine politische Entscheidung, die noch kein Grundsatzurteil über die Zukunft von paralympischen Sportlern bei Wettkämpfen der olympischen Klasse beinhaltete. Die aber viel erzählte über die Prinzipien des Weitsprungs im Speziellen und der menschlichen Bewegung im All- gemeinen.

Die schlichte Tätigkeit, in eine Sand- grube zu springen, zerfällt in ein ganzes Arsenal von Daten und Miniatur-Leistungen, wenn man sie ganz genau betrachtet. Biomechaniker spüren jedem Detail einer Bewegung nach, um sie besser zu verstehen, um zum Beispiel im Weitsprung zu erkennen, welches Tempo an welcher Stelle zu welcher Weite führt.

Gerade im Deutschen Leichtathletik-Verband sind Biomechaniker wichtige Mitarbeiter der Trainer und Athleten. Wer nicht dopen will, muss zumindest sicherstellen, dass er die natürlichen Kräfte so effektiv wie möglich einsetzt - das ist der Gedanke hinter dieser fast pedantischen Fahndung nach Fußaufsatz-Geschwindigkeiten und Kniewinkeln.

Genau vermessen

Die Einblicke der Biomechaniker zeigen, wo beim Rennen, Springen oder Werfen unnötig Energie liegen bleibt, wo man im Training ansetzen muss, um aus einer guten Leistung eine sehr gute zu machen. Es ist der Versuch, diesem komplexen biologischen System Mensch so etwas wie verlässliche Stärke abzutrotzen.

Biomechaniker bringen zum Vorschein, was für das bloße Auge kaum zu erkennen ist, deshalb lagen im Fall des Prothesen-Sportlers Markus Rehm so große Hoffnungen auf ihnen. Es sah aus wie Weitsprung, was Rehm am vergangenen Samstag bei den deutschen Meisterschaften in Ulm machte. Aber war es das wirklich? Oder war seine Siegleistung von 8,24 Meter das Ergebnis einer ganz anderen schwierigen Disziplin, die man vielleicht Tempo-Trampolinspringen nennen könnte oder Katapult-Leichtathletik?

Verglichen mit Durchschnittswerten von 32 Weitspringern

Leichtathletik-DM in Ulm

Paralympicssieger Markus Rehm bei seinem vielbeachteten Überraschungserfolg in Ulm.

(Foto: Sven Hoppe/dpa)

In den Daten der Wissenschaftler sollte man wie in einem Buch lesen können, was die Antwort auf diese Frage ist. Und im Grunde kann man das jetzt auch - zumindest wenn man die Zahlen anerkennt, welche die Biomechaniker des Olympiastützpunkts Hessen dem DLV lieferten, was zum Beispiel der Kölner Biomechanik-Professor Gert-Peter Brüggemann nur mit Abstrichen tut, weil er meint, dass man tiefer greifende Untersuchungen bräuchte, um auf den Grund der Wahrheit zu kommen.

Zahlen sehen immer so absolut aus, aber auch sie kann man unterschiedlich deuten. Vor sieben Jahren untersuchte Brüggemann den südafrikanischen Prothesen-Sprinter Oscar Pistorius im Auftrag des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF. Das Ergebnis der Studie besagte, dass der doppelt unterschenkelamputierte Paralympics-Sieger auf seinen Karbonfedern eine ganz andere Art des Laufens pflege als 400-Meter-Läufer mit zwei natürlichen Beinen und deshalb nicht für offizielle Wettkämpfe der olympischen Welt infrage komme.

Pistorius focht die Entscheidung an, brachte ein anderes Gutachten aus Amerika bei, bekam vor dem Sportgerichtshof CAS recht und wurde 2012 in London der erste paralympische Leicht-athlet bei Olympischen Spielen. Luis Mendoza vom Olympiastützpunkt Hessen, beteiligt an den Messungen in Ulm, sagt: "Man kann wissenschaftlich immer alles in Zweifel ziehen."

Der DLV glaubt ans Verfahren des Frankfurter Olympia-Stützpunkts, dessen Biomechaniker schon lange die DLV-Leistungsdiagnostik übernehmen und die auch ohne Rehm mit ihren Geräten in Ulm gewesen wären. Rehm war sozusagen ihr Sonderauftrag. Die Daten der Frankfurter basieren auf einer Video-Analyse. Die Bilder werden kalibriert und jeder einzelne Sprung in seine Einzelteile zerlegt. Anlauf-Geschwindigkeit, Horizontal-Geschwindigkeit beim Absprung, Vertikal-Geschwindigkeit nach dem Absprung usw.

Seit Jahren sammeln die Frankfurter solche Daten, sie besitzen ein umfassendes Archiv und haben deshalb einen guten Überblick darüber, welche Kräfte normalerweise wirken, wenn ein Mensch über acht Meter weit springt. Um die Leistung des Prothesen-Springers einordnen zu können, verglichen sie Rehms Daten beim 8,24-Meter-Sprung von Ulm nicht nur mit denen von Cristian Reif beim 8,20-Satz, der ihm Platz zwei brachte, sondern auch mit Durchschnittswerten von 32 Weitspringern, die in den vergangenen Jahren Weiten zwischen 8,00 und 8,59 erzielten.

"Das haben wir noch nie gesehen"

Ergebnis: Rehm läuft viel langsamer an als Reif und die anderen Acht-Meter-Springer ohne Prothese, aber seine Geschwindigkeit nach dem Absprung ist viel höher (siehe Grafik). Einen "unglaublich geringen Geschwindigkeitsverlust", stellt Gonschinska fest beim Übergang Anlauf/Absprung und "eine unheimliche Absprung-Ökonomie", was sich an einem Bilanzkoeffizienten von 2,5 für Rehm festmacht. "Das ist eine Zahl, die wir noch nie gesehen haben", sagt Gonschinska.

Nach den Erkenntnissen der Frankfurter ist es einem Athleten mit natürlichem Sprungbein noch nie gelungen, aus so geringem Anlauftempo, so raketenartig in die Luft zu schnellen. Bei Rehm scheint das Gesetz außer Kraft zu sein, wonach die Weite von der Anlaufgeschwindigkeit abhängig ist. Der Schluss liegt nahe, dass das an der Prothese liegt. "Die Absprunggeschwindigkeit muss irgendwo herkommen", sagt Gonschinska, "und sie lässt sich nicht mit der ermittelten Anlaufstruktur begründen."

Offensichtlich verliert ein Karbonfuß beim Absprung viel weniger Energie, als ein menschlicher Fuß das je könnte. Daraus kann man schließen, dass in der Wettkampfklasse von Markus Rehm andere Eigenschaften gefordert sind als in der von Reif und den anderen Olympia-Weitspringern. Daraus wiederum ergibt sich, dass beide Bewegungen zu unterschiedlich sind, um sie zu vergleichen. "Die menschlichen Bedingungen sind einfach anders", sagt Gonschinska. Deshalb entschied der DLV gegen Rehm.

Markus Rehm will nicht klagen gegen das Votum, zumindest hat er das vorher so gesagt. Er bekam viel Lob für seine Leistung von den DLV-Männern und auch von dem Tübinger Biomechanik-Professor Veit Wank, der als auswärtiger Experte der Pressekonferenz beiwohnte und die DLV-Entscheidung begrüßte. Aber Sportdirektor Kurschilgen, der Rehm die Nachricht überbracht hatte, ließ auch durchblicken, dass der Prothesen-Springer selbst die Zahlen aus Ulm anders deuten würde. "Ich habe nicht den Eindruck, dass ich einen Vorteil habe", hat Rehm vor ein paar Wochen in München nach einem Show-Wettkampf gesagt. "Allein die Anlaufdynamik. Da werde ich nie so dynamisch sein wie jemand mit zwei Beinen." Markus Rehm wäre sicher gerne nach Zürich mitgefahren nach seinem mächtigen Satz von Ulm.

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