Proteste in Brasilien:Eine Fußballnation bekämpft den Ball

Demonstrators protest against the Confederation's Cup and the government of Brazil's President Dilma Rousseff outside the national congress in Brasilia

Demonstranten protestieren vor dem Nationalkongress in der brasilianischen Hauptstadt Brasília gegen den Confed-Cup und die Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff

(Foto: REUTERS)

So fußballverrückt wie Brasilien ist kein anderes Land der Welt. Doch ausgerechnet während des Confed-Cups brechen nun Proteste los. Viele Brasilianer, die sich erst so auf die WM 2014 freuten, werden plötzlich zum Gegner dieser Megaveranstaltung.

Von Nakissa Salavati und Lisa Sonnabend

Sie tanzten auf den Straßen, umarmten sich an der Copacabana und schwenkten gelb-grün-blaue Fahnen. Ein brasilianischer Traum war wahr geworden - als am 30. Oktober 2007 bekannt wurde, dass das Land zum zweiten Mal nach 1950 die Weltmeisterschaft austragen darf. Jenes Land, das nicht nur fußballbegeistert ist, sondern fußballverrückt wie kein anderes.

Und nun? In Rio werfen Demonstranten mit Molotowcocktails und Kokosnüssen nach Polizisten, diese antworten mit Tränengas und Gummigeschossen. In Brasília klettern junge Menschen auf das Dach des Parlaments. Autos werden in Brand gesetzt, Geschäfte geplündert. Brasilien freut sich plötzlich nicht mehr auf die WM, das Land bekämpft sie.

Proteste überschatten den Confed-Cup, der gerade ausgetragen wird. Er gilt als WM-Generalprobe. Was ist passiert in Brasilien? Wie konnte es so weit kommen, dass dieses Land plötzlich gegen den Fußball kämpft?

Zugegebenermaßen, mit der brasilianischen Nationalmannschaft, die einst die Welt mit ihrem Fußball verzauberte und fünf Weltmeistertitel holte, lief es zuletzt nicht immer rund. Das ganze Land erwartet von der Seleção den Weltmeistertitel, doch nur wenige trauen ihn der Mannschaft zu. Seit Luiz Felipe Scolari die Betreuung übernahm, scheint immerhin ein wenig Ruhe eingekehrt. Zum Confed-Cup-Auftakt gelang den Brasilianern ein 3:0-Sieg gegen Japan. Von der Form 2002, als Ronaldo, Ronaldinho und Kollegen das letzte Mal den WM-Titel gewinnen konnten, ist das Team jedoch deutlich entfernt.

Der Zustand der Mannschaft scheint für viele Brasilianer aber plötzlich nicht annähernd so besorgniserregend zu sein wie der des Landes: "Ich lass' die WM sausen und will mehr Geld für Gesundheit und Bildung", steht auf den Plakaten der Demonstranten. Brasilien ist nicht nur fußballverrückt, es ist auch sozial gespalten.

Dabei passten die feiernden Massen so gut ins Bild, das sich das Ausland von Brasilien gemacht hat: Die sechstgrößte Wirtschaft der Welt gilt als aufstrebende Macht Südamerikas, jahrelang wuchs die Wirtschaftskraft. 2013 jedoch lag sie bei gerade 0,6 Prozent, gleichzeitig stieg die Inflationsrate bis Mai auf 6,5 Prozent, die Lebensmittelpreise um 13 Prozent.

Das Staatsystem gilt als extrem bürokratisch. Auch wenn Präsidentin Dilma Rousseff einen radikalen Anti-Korruptions-Kurs fährt: Politische Parteien und das Parlament sind die bestechlichsten Institutionen des Landes, ein Drittel der Parlamentarier soll mit der Fußball-Lobby beste Beziehungen pflegen. Transparency International listet Brasilien in seinem aktuellen Korruptionsindex auf Platz 69 von 174 Ländern.

Die WM für wen?

Reichtum und Armut liegen in Brasilien weit auseinander: Die Millionenmetropole Rio de Janeiro gilt mittlerweile als eine der teuersten Städte weltweit, der monatliche Mindestlohn liegt aber umgerechnet bei gerade mal 236 Euro. Und das, obwohl sich das Einkommen der Ärmsten in den vergangenen Jahren nach Angaben des brasilianischen Instituts für angewandte Wirtschaftsstudien verdoppelt haben soll. Wie wichtig wenige Cents sein können, zeigt der Preis der Bustickets in São Paulo und Rio. Seit vergangener Woche ist er um umgerechnet sechs Cent erhöht geworden - genug, um als einer der Auslöser für die Proteste zu dienen.

Hinzu kommen fehlende Aufstiegschancen: Die Grundschulbildung sei eine Katastrophe, so die Einschätzung Dawid Bartelts von der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro. Ähnlich schlecht stehe es um die Gesundheitsversorgung, der Staat investiere zu wenig. Zwar haben alle Brasilianer einen Anspruch auf eine kostenlose Behandlung, sie bleibt aber eher ein Versprechen. Die Kapazitäten reichen nicht, die Krankenhäuser sind überfüllt. Deswegen sichern sich viele Bürger mit einer privaten Vorsorge ab. Ärmere können sich dies nicht leisten.

An der einen Stelle fehlen also staatliche Investionen, während sie an anderer Stelle Milliarden versickern: Mindestens 33 Milliarden Reais (11,5 Milliarden Euro) wird die WM verschlingen. 2016 werden dann auch noch die Olympischen Sommerspiele in Rio stattfinden - dafür sind weitere 28 Milliarden (9,8 Milliarden Euro) nötig.

Zwölf Arenen müssen bis 2014 neu errichtet oder umgebaut werden, Tausende Menschen werden umgesiedelt. Die Renovierungsarbeiten im legendären Maracanã-Stadion, in dem 200.000 Fans das WM-Finale 1950 verfolgten, verzögerten sich, so dass der Bau nur mit Ach und Krach vor dem Confed-Cup fertig wurde. Umstritten sind aber vor allem die Bauten, von denen keiner weiß, wie sie nach dem Spektakel 2014 genutzt werden sollen. In Manaus, quasi mitten im Dschungel des Amazonas, wird die Arena da Amazônia errichtet. 42.000 Zuschauer passen hier hinein. Doch wer soll nach der WM zuschauen? Zu den Spielen des örtlichen Vereins kommen meist nicht mehr als 500 Anhänger. Das Motto der Demonstranten lautet deswegen: "Copa pra quem?" - die WM für wen?

Brasilien ist die erfolgreichste Fußballnation der Welt. 1958, 1962, 1970, 1994 und 2002 wurde die Seleção Weltmeister. Spieler wie Garrincha, Pelé, Sócrates, Romário, Ronaldo oder Ronaldinho werden verehrt wie sonst nur Nationalheld Tiradentes, der im 18. Jahrhundert gegen die portugiesische Kolonialmacht kämpfte.

Natürlich träumen in den Favelas weiterhin noch immer Zigtausende Kinder davon, beim Kicken auf der Straße entdeckt zu werden und so der Armut zu entkommen. Natürlich begeistern die Profis in den Stadien und die Jugendlichen am Strand mit der typischen kreativen Spielweise, die Soziologen gerne in einen gesellschaftlichen Kontext setzen: Als Spiegelbild der Begabung einer Nation, stets den Kopf noch einmal aus der Schlinge zu ziehen.

Und natürlich sind auch beim Auftaktspiel gegen Japan 67.000 Zuschauer in das Stadion Mané Garrincha in Brasília gekommen. Die Anhänger feierten 90 Minuten lang und feuerten die Mannschaft an: "Brasil, Brasil, Brasil!" Doch in dem Land hat sich etwas verändert.

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