Süddeutsche Zeitung

Premier League:Zweifel an Wenger zerreißen Arsenal

Von Raphael Honigstein, London

Und dann lief Antonio Conte los. Der Italiener wedelte mit den Armen, als hätte ihm jemand glühende Kohlen in den Anzug gekippt. Er brannte und rannte, aus seiner Coaching-Zone heraus und immer weiter. Bis ein tollkühner Hechtsprung über die Bande und in die Menge ihm ein wenig Abkühlung verschafften.

Die Szene wird man in den nächsten Monaten und Jahren häufig im Fernsehen zeigen. Galt doch Contes Jubel keinem gewöhnlichen Treffer. Er markierte jenen Moment, der in der 53. Spielminute am 24. Spieltag, Anfang Februar an einem recht sonnigen Samstag in London, aller Voraussicht nach bereits alles entschied: die Wahl zum Tor des Jahres, das Match gegen die Londoner Rivalen vom FC Arsenal (Endstand 3:1), die Meisterschaft. Und vielleicht auch die Zukunft seines Gegenübers Arsène Wenger bei den Gunners.

Chelseas Flügelstürmer Eden Hazard hatte den Ball in der eigenen Hälfte aufgenommen und erkannt, dass Arsenals Mittelfeld unsortiert herumstand. Er zog an zwei Spielern vorbei, ließ den dritten, Francis Coquelin, an sich abprallen wie ein Insekt. Der Sunday Telegraph fühlte sich an eines dieser Heim-Videos erinnert, "in denen ein Mann vergeblich versucht, auf einen davonfahrenden Golf-Buggy aufzuspringen", aber im Stadion an der Stamford Bridge lachte niemand. Hazards Dribbling trug ihn in den Strafraum, wo er dem Verteidiger Laurent Koscielny das "Blut verdrehte", wie das auf der Insel heißt. Ein Lupfer über Petr Cech vollendete das Fünf-Sekunden-Schmückstück.

Die Geschichte der Saison erzählt in einem Tor

In dem atemraubend schnellen, schönen, konsequenten 2:0 der Blues verdichtete sich die ganze Geschichte der Premier League 2016/17. Chelsea hatte im Duell gegen den Nachbarn aus Nord-London nicht allzu viele bedeutsame Offensiv-Aktionen, die Partie aber ob der strukturellen Überlegenheit seines 3-4-3-Systems, der coolen, berechnenden Aggressivität im Kampf gegen Mann und Spielgerät sowie einer unerhörten, situativen Brillanz im wichtigsten Abschnitt des Rasens für sich entschieden. Contes Mannschaft ist die Luxus-Version seiner italienischen Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft in Frankreich: Sie fühlt sich ohne Ball sehr wohl und beherrscht mit ihm am Fuß die Kunst der Zuspitzung; ein paar wenige Stiche reichen ihr, um Punkte einzufahren.

Es passte ins Bild, dass Conte später Hazard vor allem für seine Disziplin in der Defensive lobte, über dessen großartiges Solo-Tor sprach der 47-Jährige dagegen eher beiläufig. "Seine Leistung war heute sehr gut am Ball, aber ich möchte betonen, dass er viel für die Mannschaft gearbeitet hat", sagte Conte also: "Wenn er so spielt, ist er der komplette Spieler."

Chelsea, der Tabellenzehnte des Vorjahres, ist bereits eine komplette Mannschaft. Mit neun Punkten Vorsprung an der Tabellenspitze und nur wenigen noch ausstehenden Spielen gegen bessere Teams dürfte den Londonern der Titel kaum noch zu nehmen sein. Conte warnte seine Männer, "die Antenne weiter hoch" zu halten, aus seiner aktiven Zeit bei Juventus wisse er um die Bedeutung der richtigen Einstellung: "Ich habe viel gewonnen, aber auch drei Champions-League-Endspiele verloren, man muss hungrig bleiben."

Ob Wenger, 67, noch den nötigen Hunger aufbringt, um sich gegen die jüngere Konkurrenz in der Liga durchzusetzen, wird von der Arsenal-Anhängerschaft nach der jüngsten Niederlage in einem Schlüsselspiel zunehmend bezweifelt. Dem 1:0 durch Marcos Alonso war möglicherweise ein Foul an Hector Bellerin vorausgegangen; "in England ist das erlaubt", sagte Conte über den kompromisslosen Luftkampf, der mit einer Gehirnerschütterung für Bellerin endete. Doch selbst diese strittige Szene stand sinnbildlich für Arsenals stereotypen Probleme seit dem letzten Gewinn der Meisterschaft vor 13 Jahren: mangelnde Wettkampfentschlossenheit, Konzeptlosigkeit in der Defensive, fragile Psyche.

"Uns fehlte die Reife", gab Wenger zu, der dem Debakel wegen einer Sperre von der Tribüne aus zugesehen hatte. Oliver Girouds später Treffer zum 1:3, nachdem der ehemalige Arsenal-Held Cesc Fabregas einen Fehler von Cech zum dritten Tor für die Blauen genutzt hatte, konnte die Gemüter im Gästeblock nicht mehr beruhigen. Zwischen Wenger-Sympathisanten und -Gegnern brachen mehrere Scharmützel aus. Zwölf Punkte Rückstand bedeuten schon wieder das Ende aller Titelträume, Besserung ist nicht in Sicht. Wenger wurde von der Vereinsführung eine Verlängerung des Arbeitsvertrags um zwei weitere Jahre in Aussicht gestellt, doch der Zorn der enttäuschten Massen könnte ihn vom Platz auf der Bank vertreiben. "We want you to stay!", sangen die Fans am Samstag in Richtung des Elsässers. Allerdings waren es die des FC Chelsea.

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SZ vom 06.02.2017/tbr
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