West Ham United in der Premier League:Tage zum Träumen in Londons East End

West Ham United v Liverpool - Premier League

Historischer Jubel: Pablo Fornals, West Hams Schütze zum vorentscheidenden Treffer, und seine Kollegen.

(Foto: Alex Pantling/Getty Images)

West Ham United, das ist der ewige Arbeiterklub, der nur an guten Tagen die Favoriten ärgert. Doch nach einem sensationellen 3:2 gegen Liverpool ist die Mannschaft nun Dritter - so gut wie seit 1980 nicht mehr.

Von Sven Haist, London

So richtig konnten die Protagonisten des Spiels selbst nicht begreifen, was sie am Sonntag für West Ham United geleistet hatten. Fast ungläubig schaute sich das Mittelfeldgespann Declan Rice und Tomáš Souček auf der Ehrenrunde im Stadion um. Spielgestalter Pablo Fornals ließ die Szenerie in der Hocke auf sich wirken. Abwehrmann Kurt Zouma und Außenstürmer Saïd Benrahma tanzten. Eine vergleichbare Atmosphäre hatte bisher kaum einer von ihnen in der Karriere erlebt. Und ähnlich verhielt es sich mit der Größenordnung des Erfolgs für den Klub selbst.

Wie immer stiegen die Seifenblasen in den Himmel, zur Klubhymne "I am forever blowing bubbles". Doch diesmal konnten die Fans gar nicht anders, als darüber zu sinnieren, ob ihre Träume diesmal vielleicht nicht zerplatzen wie Seifenblasen; ob es nicht doch gelingen könnte, dass der stolze Traditionsbetrieb aus dem Londoner East End erstmals in der Historie die Meisterschaft gewinnt?

Am Tag danach weckte West Ham über die sozialen Medien seine Anhänger mit einem herzlichen "Good Morning!", versehen mit einem Smiley mit Herzen als Augen und dem ekstatischen Jubel als Videobeweis: Nein, das 3:2 (1:1) über den FC Liverpool war kein Traum gewesen. Schon am Vorabend hatte West Ham seinen Mitgliedern die Tabelle geschickt, die den Klub auf dem dritten Platz präsentiert, gerade mal drei Punkte hinter Spitzenreiter FC Chelsea. Nach elf Spieltagen stand West Ham in der ersten Liga überhaupt erst zwei Mal besser da: 1975 und 1980. Keiner der aktuellen Spieler war zu diesem Zeitpunkt geboren.

Das meiste Lob bekommt derzeit David Moyes ab, der schottische Trainer

Vermutlich kein anderer Klub auf der Insel hat den Fußball in der Vergangenheit in ähnlicher Form geradezu erleiden müssen wie das meist glücklose West Ham United, gegründet 1895 von Werftmitarbeitern, wodurch der Verein seine Rufnamen "Hammers" und "Irons" trägt. Es ist die Verbindung zur Arbeiterklasse, die den Klub von seinen besser betuchten Stadtrivalen abhebt. Sie verschafft ihm eine Aura, die West Ham immer wieder über sich selbst hinauswachsen ließ. Im ehrwürdigen, aufgrund seiner Enge fast furchteinflößenden Boleyn Ground, im Volksmund "Upton Park" genannt, wurden reihenweise Topklubs zu Fall gebracht.

2016 zog West Ham dann allerdings ins weitläufige Londoner Olympiastadion um und wurde mit dem neuen Zuhause selten warm - bis der Klub während der Corona-Pandemie einige Anpassungen vornahm. Zwar müssen die Zuschauer auf dem Weg ins Stadion weiterhin an den Wochenend-Bummlern zum Einkaufszentrum Westfield vorbei, aber immerhin sind die Tribünen hinter den Toren näher ans Spielfeld gerückt und die Pufferzonen neben dem Platz in den Vereinsfarben weinrot-blau geschmückt. Das Gefühl aus dem geliebten Upton Park stellt das zwar nicht her, aber immerhin beeindruckt jetzt auch die 60 000 Besucher fassende Arena die Gegner. Bei jedem Liga-Heimspiel in dieser Saison war die Schüssel ausverkauft. Und der Triumph über Liverpool wirkte wie eine verspätete Einweihungsfeier.

"Wham!", schrie das Massenblatt Sun über die Titelseite: ein englischer Ausruf der Freude und zugleich auch ein Wortspiel mit dem Vereinsnamen. Die anderen Inselmedien bliesen in dasselbe Horn. Am meisten Lob bekam David Moyes, 58, der schottische Trainer, dessen Karriere bereits vorüber zu sein schien nach früh gescheiterten Stationen bei Manchester United, Real Sociedad und dem AFC Sunderland. Bei West Ham half er einst kurzfristig, ab November 2017, für eine dreiviertel Saison aus. Nach seiner erneuten Übernahme vor knapp zwei Jahren formte er aus dem abstiegsgefährdeten Team dann eine erweiterte Spitzenmannschaft, die an seine erfolgreiche Zeit beim FC Everton von 2002 bis 2013 erinnert.

Mit den für Moyes typischen Tugenden brachte sein Team dem seit 25 Spielen ungeschlagenen Liverpool die erste Saisonniederlage bei. Auf Basis einer fein abgestimmten, kompakten Defensive am eigenen Strafraum, die mehr auf Torabsicherung aus war als auf den schnellen Ballgewinn, konterte sich West Ham mit dem Spielzug des Tages zum vorentscheidenden zweiten Treffer durch Fornals (67.). Die anderen beiden Treffer fielen jeweils nach einem Eckball: Zunächst lenkte Liverpools Torwart Alisson Becker den Ball unter Bedrängnis selbst ins eigene Tor (4.), dann wuchtete Zouma den Ball per Kopf über die Linie. Mittlerweile hat das Team unter Moyes 32 Treffer nach Standards erzielt, mehr als alle Konkurrenten in diesem Zeitraum.

Nicht mal Liverpool-Trainer Jürgen Klopp - der abermals auf den Schiedsrichter losging und neben der Aberkennung des ersten Treffers eine rote Karte für West Hams Aaron Cresswell forderte - konnte den Erfolg des Gegners übertönen. West Hams Kader ist um den englischen Nationalspieler Rice, 22, gebaut, der mit seiner Umsicht und Ballsicherheit der Anker ist. Dahinter hält Königstransfer Zouma (35 Millionen Euro/Chelsea) die Abwehr instand, auf den Seiten agieren spielstarke Dribbler und vorne lauert Torjäger Michail Antonio (sechs Ligatreffer).

Sogar die ungewohnte Belastung durch die Qualifikation für die Europa League steckt West Ham derzeit weg: Souverän führt der Klub seine Vorrundengruppe an. Sein Team stehe "zu Recht" weit oben, betonte Moyes mehrmals - als müsse er sich selbst erst mal daran gewöhnen.

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