Premier League:Warum niemand mehr Tottenham beleidigt

Watford v Tottenham Hotspur - Premier League

Intelligente Stürmer bei Tottenham Hotspur: Heung-Min Son und Harry Kane (l.).

(Foto: Getty Images)

Von Raphael Honigstein, London

Jedes Frühjahr, meistens im April, wird von der Anhängerschaft des FC Arsenal der St Totteringham's Day begangen. Der bewegliche Feiertag markiert das Datum, ab dem die Gunners in der Tabelle nicht mehr vom Lokalrivalen Tottenham Hotspur überholt werden können. In der laufenden Spielzeit sieht es aber so aus, als ob sich die Arsenal-Fans länger als üblich mit den Festivitäten gedulden müssen. Vielleicht fällt St Totteringham's Day erstmals seit 1995 auch ganz aus.

Die Spurs stehen kurz vor Neujahr nur vier Punkte hinter Arsène Wengers Titelfavoriten. Es gebe "nicht mehr den Hauch eines Zweifels", dass die Mannschaft von Mauricio Pochettino zum ernsthaften Meisterschaftskandidaten tauge, befand der Guardian nach dem 2:1-Sieg bei Aufsteiger Watford am Montag. "Die Zahlen reflektieren, dass der Titel möglich ist", gab selbst der um Erdung bemühte Pochettino zu. "Aber wir müssen jetzt einfach hart weiterarbeiten, so wie vor sechs Monaten."

Schwächer besetzte Mannschaften blühen in England auf

Alright. Die Premier League, das sollte man an dieser Stelle sagen, ist derzeit ein eher trüber Teich, in dem Groß und Klein eng beieinander dümpelt. Ein paar Siege in Serie reichen da schon, um ganz oben mit zu schwimmen - für die Überraschungself von Leicester City, und auch für bessere Mittelklasse-Teams wie die Spurs, die im Vergleich mit den Milliardentruppen aus Manchester, Arsenal und dem abgestürzten Meister Chelsea individuell weitaus schwächer besetzt sind.

Aber den Erfolg der Lilienweißen nur mit dem allgemeinen Niedergang der sportlichen Qualität auf der Insel zu erklären, würde Pochettinos geradezu herkulischer Leistung nicht gerecht. Dem Argentinier ist in nur 18 Monaten ein echter Kulturwandel gelungen: Tottenham hat unter der Anleitung des 43-Jährigen den Ruf des schusseligen, von Fehleinkäufen und Charakterschwäche geplagten Verlierervereins abgelegt.

Während Wenger in der Nachbarschaft sein Imperium aufbaute, verpflichtete Tottenham-Boss Daniel Levy regelmäßig die falschen Trainer und Spieler. Unglück und Unvermögen spiegelten sich in dem von der eigenen Anhängerschaft selbstironisch verwendeten Adjektiv "spursy" wider. Pochettino ist nun aber drauf und dran, das Wörtchen ganz neu zu definieren.

Gegen Watford gelingt ein dreckiger Sieg

Der schmutzige, glückliche Watford-Sieg - der ehemalige Leverkusener Heung-Min Son erzielte in letzter Minute aus abseitsverdächtiger Position den entscheidenden Treffer mit der Hacke - passte zu einer Mannschaft, die Punkte nicht mehr verschenkt, sondern sie sich wenn nötig grimmig unter den Nagel krallt. Keine Elf hat weniger Gegentore (15) kassiert; mit der jungen, laufstarken Truppe um Bälle zu kämpfen, macht niemandem Spaß.

Unvorstellbar, dass sich heute ein gegnerischer Trainer hinstellt und sein Team darauf hinweist, dass ein 0:3-Rückstand zur Pause gegen die notorisch willensschwachen Nord-Londoner noch nicht das Ende sein müsse: "Vergesst nicht Jungs, es sind nur die Spurs!" So hatte es im September 2001 Alex Ferguson gemacht. Sein Manchester United dreht damals mit fünf Toren in der zweiten Hälfte die Partie.

Der Trainer setzt auf Talente und Engländer

Mauricio Pochettino, der nach acht Jahren als Innenverteidiger bei Espanyol 2009 den kleineren der beiden Klubs aus Barcelona als Coach übernahm, pilgerte in seinem ersten Trainerjahr ins Kloster Montserrat, um bei der Schwarzen Madonna Hilfe für den Abstiegskampf zu suchen. In Southampton, seiner ersten Trainerstation in der Premier League, vertraute er 2013/14 dann bereits ganz auf irdische Mittel: Seine Saints waren eines der wenigen englischen Teams, die in der gegnerischen Hälfte systematisches Pressing betrieben. Ähnlich unangenehm spielt es sich jetzt auch gegen seine Spurs, die zudem im Sturm mit dem beweglichen, spielintelligenten Harry Kane, 22, aufwarten. Englands neuer Nationalheld steht bei elf Liga-Treffern in der Saison, man werde ihn im Januar "für kein Geld der Welt" verkaufen, erklärte Pochettino.

Kane ist der beste Einheimische in der von Ausländern dominierten Liga, bei Tottenham aber kein Einzelfall. Unter Pochettino haben es auch Talente wie die Mittelfeldspieler Eric Dier, 21, und Dele Alli, 19, ins Dunstfeld des Nationalteams geschafft. Das Durchschnittsalter der Elf liegt regelmäßig unter 25 Jahren.

"Der Trainer glaubt an uns jüngere Spieler, er hat keine Angst", sagt Dier, der bei Sporting Lissabon ausgebildet wurde. "Tottenham ist eine Mannschaft, die es lohnt anzuschauen, weil oft fünf Engländer auf dem Platz stehen ", freut sich Nationaltrainer Roy Hodgson. Arsenal-Fans werden das zwar weniger gerne sehen, doch Pochettinos Jugendstil hat in der launenhaften Liga beste Chancen, zum großen Trendsetter zu werden.

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