Premier League:Verschieben sich die Kräfte im Londoner Fußball?

Tottenham Hotspur - FC Arsenal

Tottenhams Dele Alli jubelt über seinen Treffer gegen den FC Arsenal.

(Foto: dpa)
  • Mit einem 2:0-Sieg gegen den FC Arsenal werden die Spurs zum ersten Mal seit 22 Jahren in der Abschlusstabelle vor dem Nord-Londoner Rivalen stehen.
  • Auch die Meisterschaft ist noch möglich - allerdings hat der FC Chelsea immer noch vier Punkte Vorsprung.
  • Ausgerechnet jetzt müssen sich die Fans von ihrem geliebten Stadion trennen.

Von Sven Haist, London

Ein Blick auf die Gästeliste reichte aus, um zu verstehen, welche Bedeutung für Tottenham Hotspur in diesem letzten Aufeinandertreffen mit dem FC Arsenal an der White Hart Lane steckte. Am Freitag hatten die ehemaligen Spurs-Profis Osvaldo Ardiles und Ricky Villa bereits ihren Landsmann Mauricio Pochettino mit einem Besuch auf der Pressekonferenz überrascht. Und nun tauchte Jürgen Klinsmann in der Halbzeitpause am Spielfeldrand auf. Sofort war da wieder diese natürliche Sympathie zwischen den Fans und ihrem Liebling. Die Menschen begrüßten ihn mit honorigem Applaus, keiner hat vergessen, dass dem Angreifer in 56 Ligaspielen für die Spurs 30 Tore gelungen waren.

Klinsmanns Augen richteten sich gerührt auf die Videowand über dem Members Stand, weil die Stadionregie ein paar seiner Treffer einspielte. Die Szenen sollten an die Saison 1994/95 in der Premier League erinnern, in der Klinsmann mit 21 Toren einen wesentlichen Anteil daran hatte, dass Tottenham sich in der Abschlusstabelle vor Arsenal einreihte. Dann nahm Klinsmann wieder seinen Platz auf der Tribüne ein - und erlebte mit, wie sich Geschichte für seinen einstigen Verein nach 22 Jahren, elf Trainern und 50 Duellen mit Arsenal wiederholte.

Seit Sonntagabend steht fest, dass Tottenham Hotspur wieder die Nummer eins im Norden Londons ist. Bei noch vier ausstehenden Spieltagen beträgt der Vorsprung auf die Gunners 17 Punkte. Das heißt, dass der St Totteringham's Day in diesem Jahr ausfällt, also der Moment in einer Saison, in dem die Spurs den ungeliebten Nachbarn in der Tabelle nicht mehr überholen können. Stattdessen gibt es nun den: St Goner's Day. Zum ersten Mal seit dem 17. April 1995. Damals waren manche Spieler Tottenhams gar nicht auf der Welt - und Arsenals Trainer Arsène Wenger noch beim AS Monaco tätig.

Eine Generation an Menschen erfährt nun, wie es sich anfühlt, eine Saison vor Arsenal zu beenden. Die Spieler bekamen auf der Ehrenrunde Ovationen der Dankbarkeit. Am Kabineneingang wartete ihr Lehrmeister auf sie; Pochettino ließ es sich nicht nehmen, jeden einzelnen zu beglückwünschen. Bis die 31 811 Zuschauer vollständig das Stadion verlassen hatten, dauerte es eine halbe Stunde.

Das Loslassen fiel den Fans sichtbar schwer. Im Hinterkopf war ja der Gedanke, dass das Ende dieser lieb gewonnen Spielstätte naht, die im Jahr 1899 zur Heimat des Vereins geworden ist. Eine Tür weiter entsteht bereits das neue Stadion, dessen Fertigstellung (voraussichtlich im Sommer 2018) allerdings auf den Abriss des alten angewiesen ist. Begonnen wird damit am 14. Mai nach der Partie gegen Manchester United.

Den provisorischen Umzug ins Wembley in der kommenden Spielzeit könnte immerhin der 14. Heimsieg hintereinander lindern. Ein würdiger Abschluss wäre das dann, weil Tottenham erstmals in der Premier League eine Saison lang zuhause ungeschlagen bliebe. Wozu die Lane in der Lage ist, verdeutlichte die Energie, die das Londoner Stadtduell umgab. Auf der einen Seite führte das zu sechs Festnahmen durch die Polizei, aber auch zu einer beeindruckenden, friedlichen Atmosphäre im Stadion.

Die Chance auf die Meisterschaft ist klein - aber noch da

Angeschoben vom Enthusiasmus auf den Rängen entwickelte Tottenham einen jugendlichen Esprit, dem das haltlose Arsenal nichts entgegenzusetzen hatte. Auf der Bank resignierte Wenger und hielt sich die Hände vor die Augen. Nach den desaströsen Pleiten bei West Bromwich und Crystal Palace (1:3, 0:3) stellte er kürzlich - erstmals in diesem Jahrtausend - entgegen seines Naturells auf eine Dreierkette um, um sein Team vor gegnerischen Kontern besser zu schützen.

Beim Gegentreffer durch Alli sah das nun so aus, dass sich Nacho Monreal entschied, auf Abseits zu spielen und damit seinen Nebenmann Laurent Koscielny überraschte. Der halbrechte Innenverteidiger Gabriel Paulista bekam gleich gar nicht mit, was vor sich ging - und foulte beim 0:2 auch noch 146 Sekunden später im Strafraum Harry Kane, der den Strafstoß selbst verwandelte. Ohne die Hilfe von Petr Čech im Tor wäre das Ergebnis für Arsenal weitaus erniedrigender ausgefallen. Obwohl den Gunners nicht abzusprechen war, dass sie sich bemühten. Das Problem ist schlicht, dass die Qualität des Kaders nicht mehr hergibt.

Nach Abpfiff richtete Pochettino ein paar tröstende Worte an Wenger, der bei der kurzen Umarmung nach seinem 50. Spiel gegen Tottenham wie paralysiert in die Ferne blickte. Auf dem Weg zum Ausgang kam es für Wenger zu einem weiteren Zwischenfall, als ein Fernseher mit der Tabelle auf dem Monitor partout nicht Platz machen wollte. Angesprochen auf die Lücke zu Tottenham, sagte Wenger: "Die Punkte kommen nicht vom Himmel. Man muss sie sich auf dem Platz verdienen."

Bevor jedoch von einer Verschiebung der balance of power zwischen beiden Vereinen die Rede ist, benötigt Tottenham erstmal Nachhaltigkeit in den eigenen Leistungen - und Trophäen. Schrittweise hat Pochettino den Verein nach oben geführt mit dem Einbau von eigenen Talenten und einer klugen Transferstrategie. Das Team besitzt eine bemerkenswerte Ausgewogenheit, die sich in der Jeder-für-jeden-Mentalität wiederfindet.

Neun Siege hat Tottenham in der Liga hintereinander gereiht und trotzdem beträgt der Rückstand auf Spitzenreiter Chelsea in der Meisterschaft vier Punkte. Weil die Mannschaft keine titelerprobten Spieler in ihrem Kader hat, muss sie jede Erfahrung erst selbst machen. Diese Niederlagen kosten Zeit und sorgen dafür, dass es auch in dieser Saison mit einem Pokal wohl nicht klappen wird.

Das Restprogramm Chelseas weist lediglich ein Auswärtsspiel auf und Duelle mit Vereinen, die bestenfalls auf Rang acht im Klassement liegen. Wie wollen die Spurs da vorbeikommen? Da hilft es auch nicht weiter, dass der FC Arsenal jetzt abgehängt ist.

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