Premier League:Tottenham rast über England hinweg

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Tottenhams Mittelfeldspieler Dele Alli (rechts) erzielt das 2:0 gegen Manchester City. Dessen Verteidiger Nicolas Otamendi kommt zu spät.

(Foto: Glyn Kirk/AFP)

Mit einem extrem intensiven Stil ist Tottenham Hotspur in der Premier League gerade von niemandem aufzuhalten. Wie konnte das gelingen, ohne das ganz große Geld?

Von Sven Haist, London

Hinter der Maßnahme, dass Mauricio Pochettino zu Pressekonferenzen immer seinen Assistenten Jesus Perez mitbringt, steckt Kalkül. Pochettinos Sprachkenntnisse reichen selbstverständlich nach drei Jahren in England aus, um Fragen zu beantworten. Aber die Möglichkeit, sich in ausgewählten Situationen noch einmal die spanische Übersetzung anzuhören, verschafft dem Mann aus der argentinischen Provinz Santa Fe etwas mehr Zeit, sich auf die Antwort vorzubereiten.

Am Sonntag wählte Pochettino, 44, diese Option erneut. Er war nicht sicher, ob er seine Taktik offen legen sollte, mit der die Tottenham Hotspur zuvor Manchester City die erste Saisonniederlage zugefügt hatten. Schließlich sagte er: "Der entscheidende Bereich war die Spielfeldmitte, weil wir den Raum dort immer dominieren möchten - und City ebenfalls." Deswegen stattete Tottenhams Trainer sein zentrales Mittelfeld mit maximaler fußballerischer Kreativität aus, Defensivorganisator Eric Dier musste auf die Bank - das gefeierte Passspiel des Tabellenführers wurde tatsächlich eine Halbzeit lang lahmgelegt.

Das 2:0 (2:0) war die vollkommenste Leistung der Spurs seit Pochettinos Ankunft im Sommer 2014. Die 31 793 Zuschauer an der White Hart Lane feierten ihre rastlos attackierende Mannschaft. Das Massenblatt Sun schrieb: "spurfect". Tottenham schließt bis auf einen Punkt zur Spitze auf und bringt der Premier League die Erkenntnis, dass Manchester City auch unter Pep Guardiola nicht unbesiegbar ist.

Nach sieben Spieltagen entwickelt sich ein Titelrennen mit mehreren Klubs. Die Spurs hinterlassen nach dem enttäuschenden Ende der vorigen Saison nun einen reifen Eindruck. Die Qualitätslücke zu den Branchengiganten scheint geschlossen zu sein, vergleichsweise ohne größere Transfers. Nur die Zugänge des Koreaners Heung-min Son (kam 2015 aus Leverkusen) und des Franzosen Moussa Sissoko (kam 2016 aus Newcastle) erreichten zuletzt die 30-Millionen-Euro-Marke. Auf der Insel fragt man: Wie ist das gelungen?

In 630 Spielminuten hat Tottenham in der Liga bloß drei Tore hinnehmen müssen, alle nach Standardsituationen: direkter Freistoß, Elfmeter, Kopfball nach einem Freistoß. Schon in der vorigen Saison hatten die "Lilywhites" die beste Defensive - trotz fünf Gegentoren am letzten Spieltag. Pochettinos Maßnahme, die Viererkette mit vier gelernten Außenverteidigern zu besetzen, erweist sich dabei als Coup.

Die belgischen Innenverteidiger Toby Alderweirald und Jan Vertonghen agieren in ihrer Nationalelf jeweils auf der Seite, beide bringen dadurch Technik und Spielverständnis mit, um sich mit flachen Pässen aus der Bedrängnis zu helfen. Nachholbedarf gibt es nur in Kopfballduellen, gegen City spielte das aber keine Rolle.

Guardiola mag ja keine kräftigen und großen Mittelstürmer, und der Ausfall des torgefährlichen Kevin De Bruyne ist derzeit nicht zu kompensieren. Sechs Spiele hat City in diesem Jahr in der Premier League verloren - jeweils fehlte der Belgier De Bruyne. Eine Herausforderung, die Guardiola leichter bewältigen dürfte, als eine verlässliche Abwehr zu formieren. Im Gegensatz zu seinen Tätigkeiten in Barcelona und München fehlt ihm dafür das Fundament. Die Idee, den mit flinken Füßen ausgestatteten Claudio Bravo ins Tor zu stellen, hilft bisher eher den Gegnern.

Torwart Bravo überfordert City

Bravo überfordert mit seiner riskanten Spieleröffnung die Kollegen. Bis Guardiola im Winter neues Personal verpflichten kann, muss er ohne anerkannte Defensivspezialisten auskommen. Den verletzungsanfälligen Kapitän Vincent Kompany ließ er neulich bei dessen Rückkehr zu lange auf dem Platz, er erlitt einen Rückfall.

Tottenham hingegen musste zwar auf Stürmer Harry Kane verzichten, was aber nicht weiter auffiel. Die Mannschaft kann sich auf den vorgegebenen Alle-für-einen-Ethos verlassen. Sogar die Feingeister ordnen sich diesem Prinzip unter. Wenn die Spielmacher Delli Alli und Christian Eriksen wie aufgezogene Spielzeugautos vor der eigenen Abwehr herumrasen, wirkt der Antrieb des Teams, für Tottenham den ersten Premier-League-Titel zu gewinnen, größer als der Ruf des Klubs, stets das Unglück anzuziehen. Die Spurs haben gelernt, dass es legitim ist, einen Vorsprung auch mit primitiven Mitteln zu verteidigen. Als ihnen in der zweiten Halbzeit die Kraft ausging, tauschten sie das frühe Anlaufen und die Manndeckung gegen ein engmaschiges Defensivnetz.

Pochettino hat den Kader nach dem lateinischen Klubmotto zusammengestellt: audere est facere - zu wagen ist zu tun. Lernwillige Profis hat er gefördert, unerfahrene Talente sind mit ihm gereift, jetzt befinden sie sich im idealen Alter: Keiner ist älter als 29. Nun könnten sie nach dem Titel greifen, wenn ihnen nicht wegen der Champions League die Luft ausgeht. Eine Sorge, die die Fans teilen. "Atme tief ein", rief ein Anhänger Kyle Walker während der Partie zu: "Binde dir die Schnürsenkel so lange." Walker ignorierte den Hinweis und lief einfach weiter. Die Spurs sind gerade von niemandem aufzuhalten.

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