Premier League:Gefährlicher Keil in Englands Fußball

FC Liverpool: Jürgen Klopp 2020 bei einem Spiel gegen Arsenal

Jürgen Klopps Klub Liverpool steht eigentlich für andere Werte als jene, die nun im Reformpapier stehen.

(Foto: Pool via REUTERS)

Ein Reformpapier von ManUnited und Liverpool offeriert Hilfsgelder für Klubs und den Verband. Der Preis? Mehr Macht für die Spitzenklubs. Eine Umsetzung käme einem Umsturz gleich.

Von Sven Haist, London

Seit dem Gründungsjahr 1992 gilt in der Premier League das solidarische Leitprinzip "One Member, One Vote" - ein Mitglied, eine Stimme. Um in der höchsten englischen Fußballliga eine Änderung am Regelwerk oder an der Geschäftsordnung vorzunehmen, müssen 14 der 20 Klubs zustimmen, die zugleich miteinander im Wettbewerb stehen. An dieser Zweidrittelmehrheit scheiterte kürzlich die Initiative der Spitzenklubs, wegen des eng getakteten Terminplans in dieser Saison die Anzahl erlaubter Einwechslungen von drei auf fünf zu erhöhen. Im Mai stand die Wiederaufnahme des Spielbetriebs auf der Kippe, weil den Klubs knapp oberhalb der Abstiegsränge ein Abbruch erstrebenswerter erschien als die Gefahr, noch in die zweitklassige Championship abzurutschen. Das Mitspracherecht der Hinterbänkler ist für die Eliteklubs ein ihre Macht eingrenzendes Korrektiv, das ihnen zunehmend missfällt - und das sie jetzt umzustürzen versuchen.

Auf neun Seiten - etikettiert als Projekt "Big Picture", "Das große Ganze" -, die die Zeitung Telegraph am Sonntag veröffentlichte, haben die Inselklubs Manchester United und FC Liverpool ein Reformprogramm formuliert, das die bisherige Struktur der Premier League aus den Angeln heben würde. Laut dem gemeinsamen Papier der sportlichen Erzrivalen würden die jeweils neun Vereine mit der längsten durchgehenden Verweildauer in der Premier League als "langfristige Aktionäre" angesehen; im Gegensatz zu den restlichen Klubs hätten sie Sonderstimmrechte. Stand heute wären in diesem Kreis die Topvereine Arsenal, Chelsea, Liverpool, City, United und Tottenham sowie die Mittelklasseklubs Everton, Southampton und West Ham. Lediglich die Zustimmung sechs dieser neun Klubs wären dem Manuskript nach nötig, um eine einschneidende Änderung der Regularien vorzunehmen. Das hätte die Entmündigung der Hinterbänkler in der Premier League zur Folge. Die Zukunft der Liga würde in die Abhängigkeit der so genannten Top sechs geraten, die den Laden nach ihren Vorstellungen ummodeln könnten.

Noch höhere Erlöse scheinen die Triebfeder des Plans zu sein, der wohl auf die milliardenschweren US-amerikanischen Eigentümer bei United (Glazer-Familie) und Liverpool (Fenway Sports Group) zurückgeht. Den Liverpool-Besitzern ist es offenkundig egal, dass ihr Vorhaben so gar nicht zu dem passt, was Klubikone Bill Shankly einst verkörperte, der als Statue vor dem Stadion steht: Shankly glaubte "an ein Leben, in dem jeder für den anderen arbeitet, und alle bekommen einen Teil des Gewinns". Lange her.

Katastrophales Wirtschaften zusammen mit der Corona-Pandemie gefährdet die Existenz der meisten Vereine

Die beiden Klubs wissen, dass sie für ihr Vorhaben wohl niemals eine Zweidrittelmehrheit erhalten werden - also versuchen sie, als Druckmittel die Notlage der drei unterklassigen Profiligen auszunutzen. In der Vorsaison verbuchten allein die 24 Vereine der Championship einen operativen Verlust von knapp 400 Millionen Pfund; schier unfassbare 107 Prozent der Einnahmen gingen für Gehälter drauf. Das seit Jahren katastrophale Wirtschaften zusammen mit den aktuell wegfallenden Erlösen durch die Corona-Pandemie gefährdet die Existenz der meisten Vereine.

Den 72 Klubs offeriert das Projekt "Big Picture" deshalb eine sofortige Rettungszahlung in Höhe von 250 Millionen Pfund sowie 25 Prozent (bislang waren es vier) der jährlichen Fernseh- und Vermarktungseinnahmen der Premier League. Für dieses Angebot hat sich besonders Rick Parry, 65, langjähriger Geschäftsführer des FC Liverpool, in seiner neuen Rolle als Chef des Zweit-, Dritt- und Viertligaverbands (EFL) begeistern lassen. Kräftig rührt Parry die Werbetrommel.

Begeisterung trifft auf Entsetzen

Weitere Lobbyarbeit soll der Fußballverband FA leisten, der mit einer Finanzspritze von 100 Millionen Pfund gelockt wird. Dieser Betrag ist dafür vorgesehen, Einbußen zu deckeln sowie dem Amateur- und Frauenfußball unter die Arme zu greifen. Versprochen wird den Frauen ebenfalls die Finanzierung einer neuen, unabhängigen Profiliga. Und dann hält das Projekt "Big Picture" auch noch einen vermeintlichen Köder für die Fans bereit: Im Schreiben steht, dass mindestens 3000 Plätze beziehungsweise acht Prozent der Stadionkapazität den Gästefans vorbehalten sein sollen. Angestrebt wird auch eine Subventionierung von Auswärtsfahrten, die Deckelung der Kartenpreise sowie die Wiedereinrichtung von Stehplätzen.

Nur: Welche Gegenleistung würden die Hinterbänkler der Premier League für ihr "Ja" erhalten, quasi zur Selbstentmachtung? Der Begeisterung der unteren Ligen, deren Besitzer sich in Anbetracht des in Aussicht gestellten Reibachs die Hände reiben, steht nun das Entsetzen von Politik und Medien gegenüber - und in Kürze, wenn sich die Vereinsbosse wieder treffen, wohl auch das der Premier-League-Konkurrenten. Stellvertretend für den vor den Kopf gestoßenen Inselfußball kommentierte der Guardian: "In gewisser Weise waren die Vorschläge der Inbegriff sportlicher Bevormundung: eine großzügige Umverteilung des Reichtums, erzwungen durch eine erstaunliche Konsolidierung der Macht. (...) Die implizite Botschaft an die kleineren Vereine: Ihr könnt in Würde und Komfort existieren, aber ihr werdet auch euren Platz kennen. Es ist gleichbedeutend damit, einem Ertrinkenden im Austausch gegen sein Wahlrecht eine Rettungsweste zu geben."

"Big Picture" enthält zudem eine fiese Tücke, die meist überlesen wird. Die Premier League würde auf Wunsch der Verfasser des Arbeitspapiers von 20 auf 18 Teams schrumpfen, neben dem Ligapokal (der klassentieferen Klubs als Einnahmequelle dient) fiele auch der Supercup weg. Hinter dieser Entzerrung des Spielplans steckt allerdings nicht der oft vorgeschobene Grund, dass die Spieler überlastet sind. Sondern die Überlegung, die eingesparten Spieltage mit noch ausgiebigeren Vermarktungsreisen zu monetarisieren. Darauf zielt ebenso der Unterpunkt ab, wonach die Klubs in der Premier League sich das Recht sichern würden, acht Saisonspiele international selbst vermarkten zu dürfen. Dadurch würden die zentralisieren TV-Einnahmen sinken - und die sportliche Kluft sich weiter ausdehnen. Zumal die Topteams durch das neue Stimmrecht ja jederzeit die Möglichkeit hätten, immer mehr und mehr Spiele in Eigenregie über ihre Klubkanäle zu vertreiben.

Unabhängig vom Fortgang der Initiative "Big Picture" hat ihre bloße Existenz einen gefährlichen Keil zwischen die Spitzenteams und dem Rest des Feldes getrieben.

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Christoph Biermann hat ein Jahr lang die Fußballer von Union Berlin begleitet. Er zeigt Menschen zwischen Reizüberflutung und Eintönigkeit - und gibt den Profis ihre Würde zurück, indem er ihnen zuhört.

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