Pep Guardiola reagierte angemessen auf eines der eigenartigsten Spiele in dieser Saison. In der 86. Spielminute ließ sich der Trainer von Manchester City am Spielfeldrand aus Verzweiflung auf den Rücken fallen. Im Sitzen und mit ausgestreckten Beinen verfolgte er die mutmaßlich entscheidende Szene im Fernduell mit dem FC Arsenal um die englische Meisterschaft. Soeben hatte City-Verteidiger Manuel Akanji beim Spielstand von 1:0 für sein Team im Nachholspiel gegen Tottenham den Ball als letzter Mann in den Lauf des Gegenspielers Heung-min Son verstolpert. Der Stürmer sprintete allein auf den City-Ersatztorwart Stefan Ortega zu und hätte mit dem möglichen Ausgleichstreffer wohl dafür gesorgt, dass FC Arsenal den letzten Saisonspieltag als Tabellenführer in Angriff nimmt.
Doch Son scheiterte mit seinem Flachschuss an Ortega. Der Deutsche streckte im Stile eines Eishockey-Goalies seine Beine zum Spagat aus und wehrte den Ball mit dem rechten Fuß ab. Fünf Minuten später erzielte Erling Haaland mit seinem zweiten Tor des Abends per Elfmeter den 2:0-Endstand. Dadurch liegt City nun zwei Punkte vor Arsenal und kann mit einem Sieg gegen West Ham United am Sonntag aus eigener Kraft zum vierten Mal in Serie den Ligatitel gewinnen.
Nach Spielende stürzten sich die Teamkollegen auf Ortega und bedankten sich für seine Rettungstaten. Er hatte schon vor der Son-Parade zweimal auf vergleichbare Art gegen Tottenhams Dejan Kulusevski geglänzt. Sein Mitspieler Mateo Kovacic lief gar nach dem zweiten Tor über das gesamte Spielfeld zurück zu Ortega. Und Guardiola gab dem 31-Jährigen einen Kuss.
Wenn Ortega nicht gewesen wäre, erklärte der Trainer später, hätte Arsenal die Meisterschaft gewonnen. Als Son, der in 17 Pflichtspielen für die Spurs gegen Guardiolas City achtmal traf, frei durch war, habe er, Guardiola, gedacht: "Oh mein Gott, nicht schon wieder!" Allerdings gehöre Ortega in Eins-gegen-eins-Duellen "zu den besten Torhütern", die er je gesehen habe.
Ortegas Einwechslung in der 69. Minute für den verletzten Ederson erwies sich abermals als Glücksfall für City. Schon im März vertrat er im Spitzenspiel beim FC Liverpool den nach der Pause angeschlagenen Stammkeeper und sicherte seiner Truppe mit diversen Glanztaten ein Remis. Drei Wochen später bewahrte er City im Duell mit Arsenal vor einer Niederlage. In beiden Einsätzen kassierte er kein Gegentor - ebenso wenig wie kürzlich beim Auswärtsspiel gegen Nottingham Forest, als er erneut zur zweiten Halbzeit kam.
Aufgrund seiner Weltklasseform hätte Ortega auch die Beförderung zur Nummer eins verdient gehabt, doch Guardiola wollte wohl keine Unruhe riskieren. Ederson gilt als sehr impulsiv. Er wollte auch am Dienstag nach einer Kollision mit Tottenhams Cristian Romero unbedingt weiterspielen. Er wurde mit dem Knie am rechten Auge getroffen und minutenlang behandelt. Nach dem Match war das Auge stark angeschwollen. Erst als in den nächsten Aktionen offensichtlich wurde, dass der Brasilianer nicht im Vollbesitz seiner Kräfte war, entschloss sich Guardiola zur Auswechslung. Ederson zog sich wütend die Handschuhe aus, donnerte sie auf den Boden und war noch auf der Ersatzbank kaum zu beruhigen.
Ortega bekam nach seinem Kurzeinsatz die Man-of-the-Match-Trophäe überreicht. Und es wirkte in dem Moment ein bisschen absurd, dass er gerade in Deutschland bei der Kadernominierungsshow für die Heim-EM keine große Rolle spielt. Der 2022 ablösefrei vom Bundesliga-Absteiger Arminia Bielefeld zu Manchester City gewechselte Keeper wird in Fachkreisen längst zu den besten deutschen Torhütern gezählt. Trotzdem wurde er bisher kein einziges Mal für das DFB-Team nominiert.
Tottenhams Fans freuen sich mit Manchester City
Kurios war das Spiel aber nicht nur wegen der Hauptrolle für den Ersatzmann Ortega. Die fünftplatzierten Spurs hätten mit einem eigenen Sieg die Chance auf die Champions-League-Qualifikation wahren können. Doch die Fans schienen lieber verlieren zu wollen, als durch Schützenhilfe dem Erzrivalen im Meisterschaftskampf zu helfen. Den Ton setzten sie zu Spielbeginn, indem sie kundtaten, Arsenal zu verabscheuen ("Stand up if you hate Arsenal!").
Anschließend stellten sie den sonst lautstarken Support praktisch ein. Bei eigenen Torchancen zog allenfalls ein Raunen durch die Arena. Der Sky-Kommentator Gary Neville spottete angesichts der ungewohnten Stille und des fahrigen City-Spiels, dass Tottenham die Gäste "in den Schlaf" geschickt habe. Nach dem ersten Gegentor fragten die Spurs-Sympathisanten singend, ob Arsenal sich das anschaue ("Are you watching, Arsenal?"). Viele Besucher tanzten zusammen mit den Gästefans im Stadion den Poznan, das Meisterritual von City, bei dem sich untergehakt und dem Spielfeld der Rücken zugekehrt wird.
Mit den Eitelkeiten der eigenen Fans konnte Tottenhams Trainer Ange Postecoglou wenig anfangen. Er schimpfte, die letzten zwei Tage hätten ihm gezeigt, dass die Grundlagen inner- und außerhalb des Klubs "wirklich brüchig" wären. Er wolle eine Siegerelf aufbauen, sagte er. Doch statt Tottenham nimmt nun Aston Villa erstmals an der Königsklasse teil.