Premier League:Leicester City überrumpelt die Milliardenliga

569697815

Höhenflug: Jamie Vardy (unten) wird beim 3:0 in Newcastle bejubelt.

(Foto: Lindsey Parnaby/AFP)

Von Tim Brack

Die englische Liga wird von Hunderten Millionen aus Abramowitsch-Öl, Scheich-Investitionen und TV-Geldern bestimmt. Doch östlich von Birmingham, in der Mitte Englands, liegt eine 330 000-Einwohner-Stadt, in der sich ein kleiner Klub gegen die Mächtigen der Premier League auflehnt. Das ist das Fußball-Märchen, das Leicester City gerade schreibt. Ein Verein der Belächelten, der Abgeschriebenen. Vor allem aber ist es ein Verein mit einem Motto: nie aufgeben.

Leicester City führt nach 13 Spieltagen sensationell die Premier League an. Es ist das erste Mal seit 1999, dass keiner der großen Fünf (ManUnited, ManCity, Chelsea, Arsenal oder Liverpool) zu diesem Zeitpunkt der Saison an der Spitze steht. Ein Garant für den Erfolg ist ein ehemaliger Straftäter. Jamie Vardy führt die mit 28 Toren beste Offensive der Liga an. Mit 16 Jahren war der schnelle Stürmer in eine Kneipenschlägerei verwickelt. Die Folge: sechs Monate Ausgangssperre und ab 18 Uhr eine Fußfessel. "Wenn die Spiele zu weit entfernt waren, war nach einer Stunde Schluss für mich. Ich hätte sonst die Bewährungsauflagen nicht einhalten können", berichtet der 28-Jährige heute und witzelt über die Robustheit des Überwachungsgeräts: "Die Fußfessel war wie ein Knöchelschutz. Das Ding war unzerstörbar."

Bis vor drei Jahren kickte Vardy in der fünften Liga. Jetzt gilt der Engländer als Kandidat für die EM im kommenden Jahr. 2012 wechselte der Angreifer zu Leicester City und avancierte zum Publikumsliebling. Mit 13 Toren führt er die Torjägerliste an. "The Cannon" - die Kanone - nennen ihn die Anhänger wegen seiner Abschlussstärke. Vor kurzem stellte er einen Rekord des ehemaligen Manchester-United-Stürmers Ruud van Nistelrooy ein: Er traf in zehn Spielen in Serie.

Vardy kommt beim Publikum auch deshalb so gut an, weil er einer von ihnen ist. Mehr jedenfalls als so viele Jungmillionäre in Fußballschuhen aus den Internaten der Klubs. Als er noch unterklassig spielte, jonglierte er zwei Karrieren: Prothesenhersteller und Fußballspieler. "Jeder weiß, dass ich einen Vollzeitjob hatte. Aber ich stellte sicher, dass ich auch in meiner Fußballkarriere alles mir Mögliche gab. Das bedeutete lange Arbeitstage." Er lebt den Traum der Menschen, die auf der Tribüne sitzen und selbst halbwegs anständig kicken können. Dass er nun in Englands Eliteklasse angekommen ist, hat für ihn vor allem einen Vorteil, sagt er: "Man muss nicht mehr morgens um sieben Uhr aufstehen."

Nie aufgeben, allen Umständen trotzen. Das zeichnet den Verein derzeit aus. In der vergangenen Saison standen "The Foxes", die Füchse, kurz vor dem Abstieg. Neun Spiele vor Saisonende lag der Klub abgeschlagen auf dem letzten Platz, sieben Punkte von der Rettung entfernt. Dann startete die Mannschaft unter dem strengen und aufbrausenden Trainer Nigel Pearson einen Lauf. 22 Punkte eroberten die Totgesagten - drei mehr als in den 29 Spielen zuvor. Die Rettung gelang.

Überraschung: Claudio Ranieri kommt

Die Überraschung war groß, als Pearson nach dem vollbrachten Wunder gehen musste. Für noch mehr Verwunderung sorgte seine Nachfolge: Claudio Ranieri. Der Italiener wird in England oft belächelt, er gilt als Unvollendeter, der immer knapp an seinen Zielen scheitert. Der 64-Jährige trainierte Vereine wie Chelsea, den FC Valencia, Juventus, SSC Neapel, AC Florenz, Atlético Madrid, AS Rom und Inter Mailand, gewann aber nur zwei Meisterschaften und blieb selten länger als zwei Jahre.

Doch der erfahrene Trainer mit dem quirligen Charakter überraschte. Alle erwarteten, dass Ranieri macht, was er oft gemacht hat: Das Personal austauschen, alles über den Haufen werfen. Der Coach verdutzte jedoch die Beobachter und vertraute den Spielern aus dem Saisonfinale. Unter anderem dem deutschen Abwehrhünen Robert Huth, 31, der seit seinem Wechsel von Stoke City die Defensive von Leicester dirigiert und am Nicht-Abstieg erheblichen Anteil hatte. Zudem verstärkten der ehemalige Mainzer Shinji Okazaki und der frühere Schalke-Verteidiger Christian Fuchs den Kader zur neuen Saison.

Ranieri war schlau genug, um zu erkennen, wie Huth und seine Mannschaftskollegen das schier Unmögliche geschafft hatten. Mit Einsatz, Kampf und blitzschnellem Überfallfußball. Er verknüpfte diese Fähigkeiten mit einem funktionierenden 4-4-2-System. Darin spielen neben dem Dauerknipser Vardy zwei zielstrebige Flügelspieler eine Schlüsselrolle. Riyad Mahrez kam 2014 aus der zweiten französischen Liga. Der trickreiche Linksfuß steuerte bereits acht Tore und sechs Vorlagen bei. Sein Pendant auf der anderen Flügelseite ist Marc Albrighton (ein Tor, vier Vorlagen).

Mit den Erfolgen hat Ranieri die Kritiker verstummen lassen und er verlässt sich darauf, dass sein Team auch bei Schwierigkeiten nie aufgibt: "Bei Leicester weiß ich: Wir hören nie auf zu spielen, wir hören erst auf, wenn der Schiedsrichter abpfeift." In den nächsten Wochen stehen die Duelle mit Manchester United, Titelverteidiger Chelsea, Jürgen Klopps FC Liverpool und Manchester City an. Der Geldadel der Premier League wird versuchen, die Emporkömmlinge aus Leicester wieder dorthin zu schicken, wo sie hergekommen sind: in die Niederungen der Tabelle.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: