Süddeutsche Zeitung

FC Arsenal in der Premier League:Der TV-Experte küsst den Bildschirm

Lesezeit: 3 Min.

Ausgerechnet Kai Havertz! Vom Bundestrainer zuletzt als Linksverteidiger zweckentfremdet, erzielt der deutsche Angreifer nun jenes Tor, das den FC Arsenal an die Spitze der Premier League bringt - und wie.

Von Sven Haist, London

Auf dem Weg zu den Fans war es Kai Havertz zunächst nicht anzusehen, dass er soeben den Siegtreffer für den FC Arsenal erzielt hatte. Im Pulk seiner Mitspieler schritt der zurückhaltende Havertz nach dem Abpfiff langsam los - als ihn plötzlich von hinten sein Trainer Mikel Arteta überrumpelte.

Arteta legte seinen Arm um Havertz, es sah nach einer Mischung aus Schwitzkasten und Umarmung aus. So zog, riss und schleppte er seinen eher widerwillig folgenden Spieler wie ein bockiges Pferd über den Platz. Im Laufschritt, weil es Arteta mal wieder nicht schnell genug gehen konnte: Er wollte, dass zumindest die Anhängerschaft den Deutschen ausgiebig hochleben lässt, nachdem dieser das schon nicht von sich aus getan hatte. Immer wieder klopfte Arteta Havertz auf die Brust und deutete mit dem Finger auf ihn: Seht her, Kai Havertz, unser neuer Tabellenführungs-Siegtorschütze!

Liverpool und Jürgen Klopp hatten die Vorlage zur Tabellenführung geliefert

Den Assist zum 1:0 von Havertz in der 89. Minute beim FC Brentford hatte Bukayo Saka geliefert - und die Vorlage für Arsenal kam an diesem Spieltag vom FC Liverpool. Die Mannen von Trainer Jürgen Klopp hatten am Samstagmittag ein beachtliches 1:1 bei Manchester City erreicht. So konnten die Londoner wenige Stunden später durch den eigenen Sieg mit einem Punkt Vorsprung den ersten Tabellenplatz von City übernehmen. Nach 13 Premier-League-Runden hat es inzwischen fünf verschiedene Tabellenführer gegeben - und Arsenal ist jetzt einer davon, dank Havertz.

Zehn Minuten vor dem Siegtreffer hatte Arteta im festgefahrenen Match in Brentford seine letzte Offensivoption gezogen. Er brachte Havertz für Gabriel Martinelli. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der im Sommer für rund 60 Millionen Pfund vom Stadtrivalen Chelsea zu Arsenal gewechselte Havertz gerade mal ein Tor für die Gunners erzielt: einen verwandelten Elfmeter gegen Bournemouth im September. Komfortabel in Führung liegend hatte ihm damals Saka die Ausführung des Strafstoßes überlassen.

"Kai Havertz of all people" schrieb die "Sun" - ausgerechnet Havertz

Havertz' erster Treffer stoppte zwar seinerzeit die tickenden Uhren seiner Kritiker, die seine Torlosigkeit in Minuten zählten. Aber als Beruhigungsmittel für das stets hektische Vereinsumfeld diente das Tor nicht. Als Befreiungsschlag für Havertz ebenso wenig. Ein Stammplatz geriet für ihn zunehmend außer Reichweite, häufig blieben nur Kurzeinsätze. Selbst sein ausgewiesener Förderer Arteta - der die kostspielige Verpflichtung ähnlich resolut durchdrückte, wie er ihn nun zu den Fans zitierte - hatte sich schon darauf eingestellt, dass die Eingewöhnung noch eine Weile dauern könnte. Doch dann war Havertz zur Stelle. "Kai Havertz of all people", wie die Sun präzisierte. Die Umschreibung steht im Englischen für: ausgerechnet.

Als erster von 15 Akteuren im Strafraum hatte Havertz eine Flanke an den ballentfernten Pfosten antizipiert; so schaffte er es noch, den auf Bauchhöhe ankommenden Ball zu erreichen. Weil der direkt am Pfosten stehende Brentford-Torwart Mark Flekken keine Lücke ließ, köpfelte Havertz ihm den Ball intuitiv durch die Beine, aus fast unmöglichem Winkel. Havertz stand quasi auf der Torauslinie. Ein Geniestreich.

BBC-Experte Ian Wright, der in den Neunzigerjahren mehr als 200 Profispiele für Arsenal absolvierte, küsste im Studio den Bildschirm. Die Fans im Stadion würdigten den Deutschen mit jenem ironischen Sprechgesang, der auf die hohe Ablösesumme Bezug nimmt: "60 million down the drain ( auf Deutsch: im Eimer) / Kai Havertz scores again!" Wie groß die Erwartungshaltung an Havertz war, ließ sich im Telegraph nachlesen: Die Zeitung kommentierte, er sei genau für solch entscheidende Tore geholt worden.

Arsenal-Trainer Arteta würdigt Havertz mit pathetischen Worten

Sein Siegtor fühle sich unglaublich an, versicherte Havertz, 24, im Interview auf dem Spielfeld. Die Freude war ihm wie immer mehr innerlich als äußerlich anzumerken. Immerhin gab er zu, sein Tor sei schon "brillant" gewesen. Er arbeite sehr hart für diese Momente, und das habe sich heute endlich ausgezahlt. Weitaus pathetischer schilderte Arteta die Zusammenhänge: Er, Havertz, sei geradezu ein Beispiel für alle, was zu tun sei, wenn es Schwierigkeiten gebe, sagte der Trainer.

Und, was ist zu tun? "Ich habe in den vergangenen schwierigen Monaten versucht, mein Ego hinten anzustellen", offenbarte Havertz. Damit dürfte er sowohl seine Reservistenrolle bei Arsenal gemeint haben als auch die spezielle Herausforderung, die er kürzlich bei der Nationalmannschaft erfahren musste. Dort hatte ihn Bundestrainer Julian Nagelsmann zweimal als - offensiv orientierten - Linksverteidiger aufgestellt. Klaglos, aber sicher nicht restlos überzeugt akzeptierte Havertz die umstrittene Idee.

Aufgrund seiner Vielseitigkeit kann Havertz auf verschiedenen Offensivpositionen eingesetzt werden - und wird das auch immer wieder. Das ist sicher auch ein Grund, warum er sich schwerer tut als andere beim Versuch, sich in einer Elf auf einer Position unverzichtbar zu machen. Dabei ist seine größte Stärke ziemlich offensichtlich: wichtige Tore. So darf sich Kai Havertz bereits Champions-League-, Klubweltmeister- und Trainerretter-Siegtorschütze seines Ex-Vereins FC Chelsea nennen. Und nun also auch noch Arsenals Premier-League-Tabellenführungs-Siegtorschütze.

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