Süddeutsche Zeitung

Fußball in England:Tuchel tobt wie sonst nur Klopp

Der Chelsea-Coach kritisiert, dass die Liga trotz der vielen Corona-Infektionen am Terminplan festhält. Doch der Fall zeigt auch die Doppelmoral von Klubs und Trainern in der Pandemie.

Von Sven Haist, London

Nach dem enttäuschenden 0:0 des FC Chelsea vor einer Woche in Wolverhampton verriet Thomas Tuchel kurz, welcher Gedanke ihn gerade am meisten umtrieb. Auf die Frage, ob der Wettbewerb in der Premier League aufgrund der unterschiedlich stark von Corona-Fällen geplagten Klubs verzerrt werde, erkundigte sich der deutsche Chelsea-Trainer erst mal nach dem Resultat des Tabellenführers Manchester City. Als ihm Citys souveräner Sieg in Newcastle übermittelt wurde, murmelte Tuchel, dies sei "vorhersehbar" gewesen. Aus seiner Sicht: leider.

Durch das spektakuläre 6:3 über Leicester am Boxing Day baute Meister City seine Siegesserie nun sogar auf neun Ligaspiele aus, wodurch Chelsea in der Anschlusspartie bei Aston Villa fast gezwungen war, ebenfalls zu gewinnen, um nicht entscheidend im Titelrennen zurückzufallen. Deshalb nominierte Tuchel seine vermeintlich stärkste Besetzung - mit dem zuletzt angeschlagenen Mittelfeldantreiber N'Golo Kanté und dem gerade von Corona genesenen Flügelstürmer Callum Hudson-Odoi in der Startelf. Als die Partie nach der ersten Halbzeit (1:1) auf der Kippe stand, erhöhte Tuchel ohne Rücksicht auf Verluste das Risiko, indem er weitere Spieler einwechselte, die ebenfalls soeben erst eine Covid-Infektion überstanden hatten: Für den neuerlich verletzten Kanté kam Stratege Mateo Kovacic ins Spiel, und schon zur Pause kam Mittelstürmer Romelu Lukaku - der Chelsea letztlich zum Sieg führte.

Beim 3:1 (1:1) über das widerspenstige Villa, das seinerseits auf den positiv getesteten Trainer Steven Gerrard verzichten musste, erzielte Lukaku per Kopf das 2:1 (56.) und holte mit einer Energieleistung in der Nachspielzeit einen Elfmeter heraus, den Jorginho verwandelte (90.+3). Die wichtigen drei Punkte beendeten Chelseas Ergebnisflaute (zuletzt nur zwei Siege in sechs Ligaspielen), wodurch der Rückstand auf City bei sechs Zählern bleibt.

"Ich bin sehr besorgt", klagt Tuchel - sein Spieler Lukaku klagt über ihn

In diesem Kontext aus Anspannung (wegen der Personallage) und Erleichterung (über den Sieg) war zu verstehen, dass Tuchel bei seiner Spielanalyse zu einem Rundumschlag ausholte, den sich in dieser Form in England sonst wohl nur sein deutscher Kollege Jürgen Klopp vom FC Liverpool erlaubt. Die Premier League "zwinge" Chelsea, die ganze Zeit zu spielen, selbst wenn die Spieler an Corona erkrankt seien, echauffierte sich Tuchel. Diese Entscheidungen träfen "Leute am grünen Tisch in Büros", aber das sei "nicht der richtige Weg". Er habe zum Beispiel Lukaku länger einsetzen müssen, als ihm die medizinische Abteilung "empfohlen" hatte, klagte Tuchel: "Vielleicht machen wir hier einen großen Fehler. Ich bin sehr besorgt."

Zur selben Zeit äußerte auch Lukaku seinen Unmut - allerdings nicht darüber, dass Tuchel ihn bereits zur Pause eingewechselt hatte, sondern dass er ihn erst so spät mitwirken ließ. Ein Fußballer wolle immer auf dem Platz sein, gab Lukaku zu verstehen und stichelte gegen seinen Trainer, indem er kundtat, Tuchel hätte "seine Gründe" gehabt, ihn seit zwei Monaten in der Liga nicht mehr für die Startelf zu nominieren.

Auch wenn sich die Betrachtungen eines Spielers und Trainers naturgemäß unterscheiden, relativierte Lukakus Einwand die Liga-Schelte seines Chefcoachs. Und zu bedenken war auch, dass für Tuchel trotz der coronabedingten Ausfälle von Timo Werner und Kai Havertz immer noch qualitätsstarke Ersatzkräfte wie Hakim Ziyech, Saúl Ñíguez oder Ross Barkley verfügbar gewesen wären, die beim Gegner wohl alle zur ersten Elf gehört hätten. Ein Mitwirken dieser Spieler sah Tuchel jedoch offenbar als Schwächung an, die er sich im Kampf um seine mögliche erste englische Meisterschaft nicht leisten wollte.

Aussetzung von Spieltagen? Auf keinen Fall, die TV-Sender könnten Regressforderungen stellen

Stattdessen forderte Tuchel nach dem Spiel eine Winterpause und erneut eine Erhöhung des Wechselkontingents von drei auf fünf Spieler. Bei letzterem Punkt unterstützen ihn Kollegen wie Klopp und Pep Guardiola. Aber dass die Premier League im Winter durchspielt? Vor Kurzem, in einer sportlich besseren Phase für Chelsea, schwärmte Tuchel noch, dass er es lieben würde, bei den "einzigartigen" Festtagspartien an Weihnachten "mittendrin" zu sein.

Tuchels laute Empörung passt daher irgendwie auch zur Doppelmoral unter Spielern und Trainern auf der Insel, die es sich zur schlechten Angewohnheit gemacht haben, bei Widrigkeiten die Hand zu heben und diese nach dem Wind auszurichten. Der Schuldige ist dann meist die Premier League - wobei diese kein unabhängiger Machtapparat aus bösen Funktionären ist, sondern die Vereinigung ebenjener 20 Erstligaklubs. In der Vorwoche bestellte die Liga mit Geschäftsführer Richard Masters die Vereine mehrmals zu Krisentreffen ein, um über eine Saisonunterbrechung zu beratschlagen. In der Weihnachtswoche gab es binnen sieben Tagen in der Liga 103 positive Corona-Tests - ein neuer Rekordwert. Dennoch stimmten die Klubs entgegen vehementen einzelnen Protesten (Zitat Klopp: "Ich flehe, etwas zu verändern. Bitte tun Sie es zum Wohle der Spieler!") gegen eine Aussetzung ganzer Spieltage.

Denn solch eine Maßnahme wäre mit empfindlichen Regressforderungen der TV-Rechteinhaber und Sponsoren verbunden. Und sobald die Klubs zur Kasse gebeten werden, scheinen die steinreichen, aber finanzgetriebenen Vereinseigner kein Pardon mit ihren Angestellten zu kennen - weil umgekehrt Spieler, Trainer und deren Berater in Vertragsgesprächen auch kaum Gnade mit ihren Arbeitgebern walten lassen. In der Corona-Krise hat noch keiner der oft aufgebrachten Spieler und Trainer angeboten, für eine Entzerrung des Terminkalenders auf einen Teil des eigenen Luxusgehalts zu verzichten. Und irgendwo müssen diese Millionen schließlich verdient werden.

Abgesehen davon schwingt bei Tiraden in der Premier League generell meist Kalkül mit. Auch Tuchels Ärger am Sonntag mischte sich mit Wohlgefühl: Er sei "beeindruckt" von seinen Spielern, sagte er nach seiner Schelte, er empfinde "maximalen Respekt" für sie. Damit ließ er den Sieg seines Teams größer erscheinen, als er letztlich war.

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