In knapp 20 Jahren als Eigentümer des FC Chelsea hat Roman Abramowitsch nie eine Entscheidung begründet. Auch jetzt nicht, als er am Samstagabend auf der Klubseite spektakulär ankündigte, mit sofortiger Wirkung die "Verantwortung und Fürsorge" für den Verein "an die Treuhänder der wohltätigen Chelsea-Stiftung" abzutreten. Die von Abramowitsch in der Ich-Form, ohne Anrede, Gruß und Unterschrift veranlasste Mitteilung ( "Statement from Club Owner Roman Abramovich") gleicht einem Paukenschlag - wie einst sein Einstieg im Sommer 2003.
Damals kaufte sich der russische Oligarch, der für sein Schweigen ebenso bekannt ist wie für seinen in der Öl-, Gas- und Aluminium-Industrie aufgebauten Milliardenreichtum, als erster Superreicher in die Premier League ein. Mit einem noch nicht da gewesenen Investitionsvolumen veränderte Abramowitsch die Balance im europäischen Fußball grundlegend - und das könnte durch seinen Rückzug nun wieder der Fall sein.

Internationaler Fußball:Abramowitsch gibt Verantwortung bei Chelsea ab
Der Oligarch teilt in einem Statement mit, die "Verantwortung und Fürsorge" an Treuhänder einer klubeigenen Stiftung übertragen zu haben. Er bleibt aber Eigentümer des Klubs.
Seine Absichtserklärung wirkt aufgrund der zeitlichen Nähe wie eine unmittelbare Reaktion auf die Invasion der russischen Armee in der Ukraine - und den Vorstoß des Labour-Abgeordneten Chris Bryant am Donnerstag. Bryant hatte die britische Regierung um Premier Boris Johnson aufgefordert, die Vermögenswerte des russischen Oligarchen einzufrieren und damit auch die Anteile an Chelsea, dem aktuellen Welt- und Europameister des Klubfußballs. Dabei stützte sich Bryant auf ein ihm durchgestochenes Dokument, in dem Abramowitsch vom Parlament 2019 als "Person von Interesse" eingestuft wurde - wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "korrupten Aktivitäten und Praktiken" sowie angeblicher Klüngelei mit dem russischen Staat, insbesondere mit Präsident Wladimir Putin.
Bislang hat der Mineralöl-Baron alle Anschuldigungen bestritten, die derart drastische Sanktionen rechtfertigen würden. Inwiefern Abramowitsch, der mit der UK-Regierung seit seinem Visumsstreit vor vier Jahren ohnehin im Clinch liegt, von den in Großbritannien gerade in die Wege geleiteten Strafmaßnahmen gegenüber dem russischen Staat und seiner Elite betroffen sein könnte, ist angesichts der fortschreitenden Invasion in der Ukraine kaum zu prognostizieren.
Abramowitsch hat sich in eine Ausgangslage manövriert, die einen Staatseingriff erschweren dürfte
In seiner verklausulierten Stellungnahme verlautbarte Abramowitsch selbst lediglich, immer als "Wächter des Klubs im besten Interesse" für Chelsea gehandelt zu haben. "Diesen Werten" fühle er sich verpflichtet - wobei nicht erkennbar ist, welche Werte er damit meinte. Mit keinem Wort geht Abramowitsch, 55, der neben der russischen auch in Besitz der israelischen und portugiesischen Staatsbürgerschaft ist, auf den russischen Einmarsch ein. Einzig seine Tochter, Sofia Abramowitsch, äußerte sich dazu in den sozialen Medien. Die 27-Jährige postete ein Bild, das nicht "Russland", sondern ausschließlich "Putin" für die Auseinandersetzungen mit der Ukraine verantwortlich macht: "Die größte und erfolgreichste Lüge der Kreml-Propaganda ist, dass die meisten Russen auf der Seite Putins stehen." Dazu ist das Konterfei des Despoten durchgestrichen.

Mit der Beteuerung, sich ab jetzt erst mal nicht mehr in die strategischen Belange von Chelsea einzumischen, scheint Abramowitsch die Strategie zu verfolgen, eine Pufferzone zwischen sich und dem Verein zu etablieren. Aus mehreren Gründen könnte das aus seiner Sicht sinnvoll sein: Er möchte den Verein von den kriegerischen Aktivitäten Russlands distanzieren. Und er trifft bereits Vorkehrungen für den Ernstfall, sollte die britische Regierung wirklich planen, seine Klubanteile zu beschlagnahmen.
Ein solches Szenario würde das stark von Abramowitsch abhängige Chelsea vor erhebliche finanzielle Probleme stellen. Durch die symbolische Aussetzung seines Einflusses im Klub hat sich Abramowitsch vermutlich in eine geschickte rechtliche Ausgangslage manövriert, die einen Staatseingriff erschweren dürfte, ohne dass er dabei selbst einen erheblichen Nachteil fürchten müsste.
Trotz seiner auf Eis gelegten Befugnisse bleibt Abramowitsch alleiniger Chelsea-Besitzer und soll, anders als einige Spekulationen vermuten lassen, nicht gewillt sein, über einen Verkauf des Vereins nachzudenken. Im hochkomplizierten Firmengeflecht kontrolliert Abramowitsch den Klub über den ihm gehörenden Mutterkonzern Fordstam. Über dieses Unternehmen hat Abramowitsch mittlerweile knapp zwei Milliarden Euro als Eigenkapital in den Verein geschleust. Fordstam wiederum erhält die Mittel dafür auf Basis zinsloser Darlehen der auf den britischen Jungferninseln registrierten Firma Camberley International Investments, ein weiteres Investment-Vehikel von Abramowitsch. Dadurch kann sich Chelsea zunächst mal schuldenfrei nennen - weil Abramowitsch sich die fälligen Kredite selbst zurückzahlen müsste, etwa durch eine Veräußerung des etwa zwei Milliarden Euro teuren Vereins.
Fürs Erste verwaltet nun der vom Vorsitzenden Bruce Buck angeführte sechsköpfige Stiftungsrat die Aufgaben von Abramowitsch, wobei der Amerikaner gleichzeitig Vorstandschef des Vereins ist. Neben Klubdirektorin Marina Granovskaia zählt Buck, 75, zu Abramowitschs engsten Vertrauten: Als renommierter Anwalt schloss er einst die Vereinsübernahme für ihn ab. Das sportliche Alltagsgeschäft rund ums Profiteam verbleibt bei Granovskaia.
Trainer Tuchel deutet an, wie belastend die Angelegenheit für die Mannschaft ist
Wie belastend die Chelsea-Debatten auf der Insel gerade für die dort tätigen Mitarbeiter sind, deutete Trainer Thomas Tuchel am Freitag auf der Pressekonferenz an. Tuchel räumte ein, dass er die öffentliche Kritik an den Klubstrukturen "verstehen" könne und die Lage eine "große Unsicherheit" mit sich bringe. "Wir sollten nicht so tun, als sei dies kein Thema", sagte Tuchel: "Die Situation für mich, meine Mitarbeiter und die Spieler ist schrecklich."
Am Samstag gab es in der Premier League rührende Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine. Beim Spiel zwischen dem FC Everton und Manchester City (0:1) liefen die Spieler jeweils mit Shirts und Flaggen des Landes auf den Platz, Evertons Vitaliy Mykolenko und Citys Oleksandr Zinchenko, beides ukrainische Nationalspieler, umarmten sich mit Tränen in den Augen an der Mittellinie. Dazu hielten die Spieler von Manchester United und dem FC Watford (0:0) vor Anpfiff ein Friedensplakat in die Kameras. United-Trainer Ralf Rangnick trug ein Abzeichen mit der Aufschrift "No War" auf dem Mantel.
Diese klare Haltung hätte sich der Politiker Bryant auch vom FC Chelsea gewünscht. Nach seiner Attacke auf Roman Abramowitsch unter der Woche kommentierte er dessen Rückzug nun wie folgt: "Gut. Jetzt kann er die illegale Invasion verurteilen."