Süddeutsche Zeitung

Hochspringer Tobias Potye:"Mein Körper mag quasi keinen Leistungssport"

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Seit zwei Jahren keine Technik-Einheit: Hochspringer Tobias Potye springt oft Höhen, die er gar nicht so richtig in sich trägt. Mit EM-Silber in München gelingt ihm ein vorläufiger Höhepunkt.

Von Johannes Knuth, München

Für einen Leichtathleten, der gerade eine Silbermedaille bei den Europameisterschaften gewonnen hatte, bei seinem erst dritten internationalen Großevent im Freien, sprach der Hochspringer Tobias Potye ganz schön ausdauernd darüber, was er alles nicht konnte. "Viele wissen das gar nicht: Ich habe nicht eine Technikeinheit gemacht die letzten zwei Jahre", eröffnete er dem staunenden Auditorium, das Potyes Ausführungen am Donnerstagabend im Bauch des Münchner Olympiastadions lauschte. Keine ausgiebige Arbeit an Anlauf, Absprung und Lattenüberquerung also, mit Gewichten auf den Schultern oder Widerständen an den Füßen. Er kämpfe seit Jahren mit schmerzenden Sehnen, oder anders formuliert: Mein Körper, sagte der Hochleistungsspringer Potye, "mag quasi keinen Leistungssport." Was für ein Satz.

Wenn Athleten darüber reden, dass sie "schmerzfrei" sind, meinen die allermeisten: schmerzfrei bis auf das übliche Zwicken im Gebälk, ohne das kein Hochleistungskörper auskommt. Für Potye war sein versilberter Donnerstagabend also aus zwei Gründen speziell: Der Athlet der LG Stadtwerke München zurrte den bislang größten Erfolg seiner Karriere, mit 2,27 Metern, just in jenem Olympiapark fest, in dem er fast jeden Tag trainiert. Zugleich hatte er wieder einmal eine kleine Kunstform daraus gemacht, seinem Körper eine Leistung abzuringen, die der Körper noch gar nicht so richtig in sich tragen konnte. "Eine Medaille ist auf jeden Fall das Ziel gewesen, von daher kann ich mich nicht beklagen", sagte Potye. Man musste sich dazu denken: Was wäre erst möglich, könnte sich der 27-Jährige ins vollwertiges Training vertiefen?

Potye war einst U20-Europameister, er war schon vor vier Jahren, mit 23, bei 2,27 Metern angelangt. Aber manchmal, das hatte er schon vor Jahren eingeräumt, nervten ihn die Sehnenschmerzen so sehr, dass er sein Tun ganz infrage stellte. Zum anderen sah er sich durchaus als 2,30-Meter-Springer, vergaß dabei aber manchmal glatt, dass er die Höhe noch nie gepackt hatte. Und wer ständig an der Mauer des Durchbruchs hämmert, dem macht es die Leichtathletik nicht gerade leicht. Die Förderung ist oft überschaubar, die Athleten tingeln von kleineren zu mittelgroßen Meetings, und selbst wenn sie dabei viele Punkte zusammentragen für die Weltrangliste, die einem mittlerweile Zutritt gewährt zu den Großevents (neben immer schärferen Zugangsnormen), kann es sein, dass es knapp nicht reicht, wie bei Potye vor den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr. Er war damals sogar bei der Olympia-Einkleidung dabei.

"Eigentlich ist die Zeit reif, den Tamberi mal zu schlagen", sagte er

Andererseits: Dass er so oft so nah dran gewesen war - an den 2,30 Metern, einem internationalen Startplatz - zeige ja, dass er auf dem richtigen Pfad sei. Potye war zuletzt zumindest so konstant unterwegs, dass er einen der begehrten Plätze in der Sportfördergruppe der Bundeswehr bekam. Er kann es sich seitdem leisten, im Informatikstudium zu pausieren, bis zu den Sommerspielen in zwei Jahren wolle er auf jeden Fall Hochsprung-Profi bleiben, sagte er jetzt in München.

Die Sehnen seien auch "eine nicht mehr ganz so schlimme Gratwanderung wie die letzten Jahre"; das habe man im Diagnostikzentrums eines Verbandssponsors eingedämmt. Lange Zugfahrten seien zwar weiter "blöd" - als er Ende Juni aus München zu den deutschen Meisterschaften nach Berlin reiste zum Beispiel - aber da sei er einfach "stark im Kopf" gewesen. Berlin war, wie man spätestens heute weiß, ein Wendepunkt, ein Comeback gar, wie Potye schon damals befand. Endlich hatte er sich über diese 2,30 Meter gewunden, nach einem langen Wettkampf in der Hitze, höhengleich mit Mateusz Przybylko, 2018 noch Europameister mit 2,35 Metern. Przybylko kann auch einiges davon erzählen, wie ein knarzender Körper (und die Verbissenheit) einen am Boden halten kann. Am Donnerstag wurde er Sechster, mit 2,23 Metern.

Manchmal ist die größte Barriere nicht eine Latte, sondern der Kopf. Bei den Weltmeisterschaften in Eugene, erzählte Potye zuletzt, habe er in der Vorbereitung in Kalifornien noch die Spannung verloren, das habe er aber abgehakt. In München führte er wieder so ein stilles Selbstvertrauen mit sich. "Eigentlich ist die Zeit reif, den Tamberi mal zu schlagen", sagte er. Hätte besagter Gianmarco Tamberi, der Olympiasieger von Tokio, sich am Donnerstag nicht über 2,30 Meter geschwungen - dann wäre Potye nun wohl im Besitz einer geteilten Goldmedaille. Aber auf ewig werde sich Tamberi nicht vor ihm halten, versprach Potye. Spätestens dann vermutlich, wenn sich sein Körper wieder etwas mehr für Hochleistungssport erwärmen lässt.

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