Das Harakiri gilt als japanische Spezialität, aber am Samstag zeigten die Spieler der türkischen Nationalmannschaft in Dortmund, dass sie die Kunst der Selbstzerstörung – natürlich rein auf den Sport übertragen – ebenfalls ganz gut beherrschen. Nicht, dass es vorsätzlich gewesen wäre, aber der Grad an entscheidenden Fehlern, den sie boten, trug doch Züge von Autoaggression. Die Folge: Die Portugiesen siegten gegen die Türkei mit 3:0 – und sicherten sich damit nicht nur den Achtelfinaleinzug, sondern auch rechnerisch den ersten Tabellenplatz der Gruppe F. Die gute Nachricht für das türkische Team: Im abschließenden Gruppenspiel reicht ihnen gegen Tschechien ein Punkt, um als Gruppenzweiter die K.-o.-Runde zu erreichen.
Die türkischen Anhänger glaubten zu wissen, wo sie Cristiano Ronaldo treffen konnten. „Messi, Messi, Messi …“, riefen sie – kaum, dass sie Tarkans „Bir Oluruz Yolunda“ zu Ende gesungen hatten, eine Art offiziöse Hymne, die vor Spielen der Nationalmannschaft erklingt. „Schau nicht so ruhig / Wir sind wie Stürme, die ohne Vorwarnung losbrechen“, heißt es darin unter anderem. In ihrem ersten Spiel hatten sich die Türken getreu dem Liedgut verhalten. Die Statistiker zählten 30 Abschlüsse, mehr als jedes andere Team. Doch im Westfalenstadion war es Ronaldo, der als Erster gen gegnerisches Tor schoss. Nach gerade einmal zwei Minuten, und damit zu einem Zeitpunkt, da sich beide Mannschaften noch gar nicht richtig auf dem Rasen positioniert hatten.
Bei den Türken verzichtete Trainer Vincenzo Montella zunächst auf die beiden jungen Offensivkräfte Kenan Yildiz und Arda Güler; Portugals Roberto Martínez wiederum verzichtete auf Diogo Dalot und setzte dafür im defensiven Mittelfeld auf João Palhinha, der seit den Tagen von Thomas Tuchel vom FC Bayern als „Holding Six“ umschwärmt wird. Damit gingen eine Reihe von taktischen Varianten einher, angefangen damit, dass die Portugiesen zur Viererabwehrkette zurückkehrten, Nuno Mendes auf der linken Außenbahn und nicht mehr als Innenverteidiger agierte und Vitinha größere Freiheiten hatte, sich im Mittelfeld kreativ einzubringen.
Die Neuerung ging insofern auf, als die Portugiesen sich rasch die Dominanz erspielten, reifer und durchdachter wirkten als ihre Gegner. Gleichwohl hatten sie die erste richtig gute Gelegenheit der Partie. Nach einer Hereingabe von Zeki Celik von rechts kam Kerem Aktürkoglu wenige Meter vom Tor an den Ball – aber der frühere Münchner João Cancelo bedrängte den türkischen Außenstürmer hinreichend, um einen klaren Abschluss zu verhindern. Das war im Grunde die ganze offensive Herrlichkeit, die das türkische Team in der ersten Halbzeit zu bieten hatte. Dann folgten zwei Episoden, die das Team in die Depression stürzten.
Rafael Leão setzte sich auf der linken Seite durch und tippte den Ball zu Nuno Mendes, der ihn nicht übermäßig scharf, aber tückisch hineingab. Orkun Kökcü versuchte zu klären, zum Ärger von Ronaldo, der die Kugel verpasste, und zur Freude von Bernardo Silva, der freie Bahn hatte – und aus acht Metern zum 1:0 einschoss (21.). Dieser Treffer war noch in der Kategorie Unglück einzuordnen. Das zweite portugiesische Tor schon nicht mehr. Denn das war ein formvollendeter Schuss ins Knie, der komische Züge trug.
Denn nach einer Balleroberung durch Cancelo im Mittelfeld hatten sich der frühere Bayern-Profi und Ronaldo derart missverstanden, dass der türkische Verteidiger Samet Akaydin selbst dann den Ball nicht verloren hätte, wenn er sich darauf kapriziert hätte, in Ruhe zuzugucken, wie Cancelo und Ronaldo zeterten. Tat er aber nicht. Akaydin spielte vielmehr den Ball ohne zu schauen gen eigenes Tor. Doch dort, wo Akaydin den Keeper Altay Bayindir vermutete, stand der gar nicht. Und so rollte der Ball mit dramatischer Unerbittlichkeit, bis er die Linie überschritten hatte. Celik versuchte sich noch mit einer Grätsche, doch er erwischte den Ball erst deutlich hinter der Linie.
Der Rest der Partie war vor allem von portugiesischer Seriosität geprägt. Verteidigungschef Pepe stellte unter Beweis, dass er im Alter von 41 Jahren (und 117 Tagen) eine verlässliche Größe geblieben ist; Torwart Diogo Jota war zur Stelle, als er gefordert war (unter anderem mit einer hervorragenden Fußabwehr gegen Aktürkoglu/31.); und das technisch versierte, im Kurzpassspiel geübte portugiesische Mittelfeld sorgte für die nötige Spielkontrolle.
Portugals Pepe baut seinen Rekord mit jedem weiteren Spiel aus
Zur Pause wechselte Portugals Trainer Roberto Martínez sowohl Rafael Leão als auch Palhinha aus – offenbar eine Vorsichtsmaßnahme, da beide in der ersten Halbzeit gelbe Karten gesehen hatten. Dass Ruben Neves und Pedro Neto auf dem Platz standen, änderte nichts an der absoluten Souveränität, mit der die Portugiesen eine engagiert, aber arg kopflos wirkende türkische Mannschaft dominierten.
Es gab noch Jubelszenen. Das Publikum johlte, als Ronaldo den Altruisten in sich entdeckte, weil er den Ball quer auf Bruno Fernandes legte, auf dass der Mittelfeldspieler das 3:0 erziele (56.). Zuvor hatte Ronaldo nach Pass von Vitinha allein aufs türkische Tor laufen dürfen, weil Celik offenbar auf einer Bananenschale ausrutschte, als er versuchte, Teil einer Abseitsfalle zu werden. Ein Grundschüler wurde bejubelt, weil er die Ordner narrte und ein Selfie mit Ronaldo schoss (zwei weitere Flitzer hingegen wurden ausgebuht). Und das Publikum erhob sich noch für zwei Spieler. Für den 19-jährigen Arda Güler, der in der 70. Minute eingewechselt wurde, ohne dem Spiel auch nur den Ansatz einer Wende geben zu können. Und für Pepe, der seinen Rekord als ältester Spieler der EM-Geschichte mit jedem Spieltag ein wenig mehr ausbaut – und noch weiter ausbauen wird.