Mit einem Mal war sie da. Die Angst, die sie auf Portugiesisch medo nennen, und deren "vulgärste Form die Angst davor ist, sich lächerlich zu machen", wie der Dichter Fernando Pessoa einmal schrieb.
Im Estádio do Dragao lief die 85. Minute, und die Gefahr war mit Händen zu greifen, dass ihnen alles Mögliche noch als Arroganz auslegt worden wäre: Die Welle, zum Beispiel, die die Zuschauer schon in der ersten Halbzeit gemacht hatten. Die Cheerleader mit ihren roten und grünen Pompons, die zur Halbzeit wieder aufs Feld gekommen waren, um laszive Tänze aufzuführen, als ob es schon etwas zu feiern gegeben hätte. Oder die Lichtershow auf den Rängen: Die Tribünen im Dragão sahen da aus wie von Glühwürmchen bevölkert, weil alle ihre Handys hochhielten und das Taschenlämpchen anmachten. Oder auch: der eine oder andere Hackentrick, den Ronaldo und Konsorten zur Gaudi der Zuschauer und in der Sicherheit des Siegs aufführten, die bloß eine vermeintliche war.
2:0 hatten die Portugiesen zur Halbzeit geführt, durch Tore von Otávio (15.) und Diogo Jota (41.), mehr oder weniger verdient. Doch dann kamen die Türken nicht nur zum Anschlusstreffer durch Burak Yilmaz (65.). Die Portugiesen wurden Stück für Stück an einen Abgrund geschoben. Der Ball war am Strafraum ein bisschen ziellos hin- und hergeflogen, bis Türkei-Stürmer Enes Ünal eine Fußspitze eher am Ball war als Portugals Verteidiger José Fonte. In Realzeit war da kaum etwas Illegales auszumachen. Aber die Türken zeterten, und der Videoassistent schickte Schiedsrichter Daniel Siebert, auf dass er sich davon überzeuge, dass Fonte den türkischen Spieler an der Sohle getroffen hatte: Elfmeter.
"Wollt ihr mich verarschen?", fragte Kuntz, als er die Nachricht aus Palermo hörte
Die Zuschauer im Dragão, die dem Namen des Stadions, Drachen, wirklich alle Ehre gemacht hatten, waren still. Bissen in ihre Schals. "Vertrau auf deinen Instinkt!", rief Ronaldo dem Torwart Diego Costa vom FC Porto.
Und Costa sprang.
Vielleicht habe das genutzt, sagte er später. Vielleicht verleitete es Burak dazu, zu versuchen, den Ball mit Wucht unter die Latte zu jagen. Nur: Er schoss ihn eben über die Latte. Nicht ganz so hoch und weit wie Uli Hoeneß im EM-Finale von 1976 in Belgrad gegen die Tschechoslowakei, aber fast. An der Seitenlinie fasste sich der türkische Nationaltrainer Stefan Kuntz an den Kopf. Ein paar Spieler sanken zu Boden. Weil sie alle wussten, dass die Partie damit vorbei war. Dass das ein Schock gewesen war, von dem man sich nicht erholt. Die Akustik des Stadion verdichtete sich zu einem einzigen, ohrenbetäubenden Schrei.
Die Zeitung Récord schrie am Freitagmorgen noch: "Gott existiert!", mit einem Titelfoto von Cristiano Ronaldo, obschon andere auffälliger agiert hatten. Und A Bola schaute immerhin in den Himmel und auf die Trainerbank, weil der Europameister-Trainer von 2016 Santos heißt, Fernando Santos. "Todos os santos ajudan", alle Heiligen helfen.
"Das war ein schwieriger Moment", sagte Santos, 67, als er auf die Elfmeterszene angesprochen wurde. Aber Santos beteuerte auch, "zu keinem Moment die Überzeugung verloren" zu haben, dass Portugal gewinnen würde. Womöglich hätte er Recht behalten, das Tor zum 3:1-Endstand durch den eingewechselten Matheus Nunes in der Nachspielzeit und der folgende Lattenschuss von Ronaldo sprachen nicht dagegen.
Aber womöglich hätte nicht Santos richtiggelegen, sondern Kuntz. Der frühere U21-Trainer des Deutschen Fußballbundes verließ Porto in der Überzeugung, dass das Spiel gekippt wäre, wenn (der nach der Partie umgehend aus der Nationalelf zurückgetretene) Burak, 36, den Elfmeter verwandelt und damit eine Verlängerung erzwungen hätte. Das andere Gefühl, das Kuntz nach dem Spiel in Portugal beschlich, war der Unglaube über die Kunde aus Palermo, den 1:0-Sieg von Nordmazedonien in Italien.
In der zweiten Halbzeit wurde der Auftritt der Türken besser, sie hatten Chancen
"Ich hab' gedacht: Wollt ihr mich verarschen?", sagte Kuntz zur SZ über den Moment, als ihm die Adjutanten nach Spielschluss das Ergebnis gesteckt hatten. Nun trifft er am Dienstag in der Zwei-Millionenstadt Konya auf Italien, in einem Spiel um die goldene Ananas. "Auch gut. Denn auch in so einem Spiel kann man lernen", sagte Kuntz und verließ das Dragão.
Denn dass seine Mannschaft noch einiges zu lernen habe, um ihr Potenzial auszuschöpfen, war eine der Überzeugungen, die der seit September amtierende Kuntz gewann. Der Stolz auf sein Team ("da muss sich niemand für schämen") überwog seinen Ärger über Details der Partie auf: das Hadern über den Elfmeter, den Grimm über die ersten 20 Spielminten, in der seine Mannschaft geschlafen hatte.
"Wir sind erst nach dem 0:1 aufgewacht", sagte Kuntz. Zur Halbzeit, so ließ sich aus seinen Äußerungen schließen, sei er deutlich geworden. Ob sie von der Taktik überzeugt seien oder lieber zum Vorgängermodell zurückkehren wollten, habe er die Mannschaft in der Kabine gefragt; bloß das nicht, sei die einhellige Antwort gewesen: "Dann zeigt das! Dann spielt auch so!!!", sei der Ruf gewesen, mit dem er sein Team wieder aufs Feld geschickt habe.
In der zweiten Halbzeit wurde der Auftritt der Türken tatsächlich besser. Sie hatten Chancen. Sie hätten die Partie drehen können. Doch das reichte am Ende, um den Portugiesen Angst zu machen. Viel Angst. Panik, um genau zu sein. Doch das war am Donnerstag nicht genug, den Portugiesen dürfte es mit Blick auf den Dienstag gegen Nordmazedonien eine Lehre sein. Es geht in Porto wieder um alles, diesmal in Form eines WM-Tickets. "Ich habe Finals gewonnen, die ich angeblich schon vorher verloren hatte, und ich habe mindestens ein Finale verloren, das ich gewonnen hatte...", sagte Portugals Trainer Santos, nachdem er mit seinem Team die Hölle der Angst durchquert hatte.