Süddeutsche Zeitung

Polen und Russland spielen Remis:Geistesblitz der Dortmunder rettet Polen

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Kapitän Jakub Blaszczykowski rettet den defensiven Polen zumindest einen Punkt gegen Russland. In der aufgeheizten Stimmung im Stadion ist Russland das aktivere und spielstärkere Team - es brauchte einen Geistesblitz der Dortmunder Fraktion, um dem EM-Gastgeber eine Chance aufs Viertelfinale zu lassen.

Boris Herrmann

Die Polen hatten damit gerechnet, dass der Besuch Russlands einer der komplizierteren Tage für ihre EM-Hauptstadt Warschau werden würde. Aber dass es gleich so kompliziert werden würde, war doch eine Überraschung. Die russischen Spieler rangen dem taumelnden EM-Gastgeber im zweiten Spiel das zweite 1:1 ab.

Und draußen vor dem Stadion verwünschten und verprügelten sich derweil die russischen Hooligans mit ihren polnischen Kollegen. In der Arena konnte sich bis kurz vor dem Anpfiff zumindest niemand beschimpfen. Es hätte jedenfalls keiner gehört, weil die Veranstalter so etwas wie eine zweite Eröffnungsfeier durchführten und die beiden Fanblöcke mit Pop-Gedudel in Maximallautstärke überdröhnten.

Die rund 6000 russischen Zuschauer waren offenbar auch darauf vorbereitet, sie wussten auch mit visuellen Mitteln zu provozieren, indem sie ein gigantisches Transparent mit der Aufschrift "This is Russia" entrollten. Das Bild eines blutroten Kriegers mit Schwert und Schild, das offenbar den mittelalterlichen Nationalhelden Alexander Newski darstellen sollte, räumte die letzten Zweifel aus: Das war nicht ironisch gemeint! Zur Strafe pfiffen knapp 50.000 Polen die russische Hymne in Grund und Boden.

Die junge polnische Mannschaft war nicht zu beneiden. Sie musste in einer nationalistisch aufgeladenen Atmosphäre, wie man sie selbst im Fußball selten erlebt, einen kühlen Kopf bewahren. Sie durfte dieses Fußballspiel ja unter keinen Umständen verlieren, um sich eine realistische Chance auf das Viertelfinale zu bewahren, erst recht nachdem die Tschechen am Nachmittag gegen Griechenland gewonnen hatten.

Wohl auch deshalb hatte Polens Trainer Franciszek Smuda eine vorsichtigere Taktik als im Eröffnungsspiel gewählt. Er schickte so etwas wie einen Drei-Mann-Sechser-Riegel auf den Rasen, dem neben Eugen Polanski und Rafal Murawski auch der neu in die Startelf gerutschte Dariusz Dudka angehörte.

Um das Angriffsspiel mussten sich einstweilen die Dortmunder Robert Lewandowski und Jakub Blaszczykowski sowie der nach links verbannte Spielmacher Ludovik Obraniak weitgehend alleine kümmern. Sie entwickelten im Rahmen ihrer traditionellen Anfangseuphorie aber genug Druck, um Russlands Abwehr in Verlegenheiten zu stürzen.

Etwa nach gut zehn Minuten, als ein strammer Lewandowski-Schuss denkbar knapp über das Tor strich. Mit zunehmender Dauer arbeite sich aber die russische Mannschaft, eine Gruppe aus listigen Zwischenspielern und Querläufern, in dieses Spiel hinein und übernahm die Kontrolle. An dieser Stelle erwies sich Smudas Mittelfeldstrategie als deutlich zu hasenfüßig.

Das 1:0 durch Alan Dsagojew (37.) erschien fast schon als die logische Folge, selbst wenn es aus einer Standardsituation heraus resultierte. Andrej Arschawin trat einen Freistoß von der linken Seite mit viel Schnitt in Richtung des Elfmeterpunktes. Die polnische Defensive, also praktisch die gesamte Mannschaft, hatte sich dabei aber so tief im eigenen Sechzehner positioniert, dass niemand in der Lage war, die Geschwindigkeit des herbeieilenden Dsagojew aufzunehmen. Und so konnte ihn auch niemand von jenem Kopfballtor abhalten, dass die Lage der polnischen Fußballer auf dramatische Weise verschlechterte.

Aus der russischen Kurve flog derweil ein brennender Feuerwerkskörper auf das Spielfeld. Für eine Weile hatte man glatt vergessen, dass es an diesem Abend in Warschau nicht alleine um Sport ging, sondern auch um Provokation und Gewalt. Die Polen mussten nun aber erst einmal zusehen, ihren Offensivfußball wieder in Gang zu bringen.

Nach dem Seitenwechsel rückte zumindest Murawski ab und zu aus dem Sechser-Riegel in die Spielmacherposition. Aber auch das änderte erst einmal wenig an der Tatsache, dass sich hier im Prinzip zwei polnische Teilmannschaften abmühten - eine überfüllte Defensive und eine kleine, isolierte Angriffsabteilung.

Nach knapp einer Stunde war klar, es musste schon ein Geistesblitz aus der BVB-Produktion kommen, um diesem Spiel noch einmal einen anderen Dreh zu geben. Und siehe da: Auf Dortmund ist in diesen Zeiten eben Verlass.

Mit einer beeindruckend dynamischen Willensaktion brachte Kapitän Blaszczykowski die Polen in der 57. Minute zurück ins Spiel. Er zog von seiner rechten Seite in den Strafraum hinein und ließ Torhüter Malafejew mit seinem Gewaltschuss keine Chance. Das Zuspiel auf Blaszczykowski war natürlich von Lukasz Piszczek gekommen, dem nächsten Dortmunder.

Man kann nicht sagen, dass die EM-Gastgeber auf Basis diesen Zwischenerfolgs ihre Angriffstaktik verbessert hätten. Eher war es so, dass sich das russische Team des holländischen Trainers Dick Advocaat jetzt auch immer weiter auseinanderreißen ließ - das war womöglich der gute Aspekt von Smudas Sechser-Riegel. Und so entwickelte sich eine Schlussphase, in der es lauter große Lücken gab, wo normalerweise Mittelfelder sind. Ein Siegtor wollte unter diesen Umstände aber auf keiner Seite mehr fallen. Die Polen hätten es noch deutlich dringender benötigt.

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Quelle:
SZ vom 13.06.2012
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