Andrea Pirlo in Turin:Der Maestro wird zum Mister

May 9 2018 Rome Italy Former Milan and Juventus player Andrea Pirlo greeting the supporters w; Andrea Pirlo

Vor einer Woche als U-23-Trainer vorgestellt, nun Chefcoach der Profis: Andrea Pirlo.

(Foto: imago images / ZUMA Press)

Nach dem Aus gegen Lyon beruft Juventus Turin den früheren Mittelfeld-Samtfuß Andrea Pirlo zum neuen Trainer. Es ist ein Wagnis aus Verzweiflung.

Von Oliver Meiler, Rom

Vom "Maestro" zum "Mister" ist der Weg nicht weit, wenigstens phonetisch, aber ist es ein Spaziergang? Andrea Pirlo, einer der samtfüßigsten und spielintelligentesten Spieler seiner Generation, ein "Maestro" eben, hat in seinem Leben noch nie ein Team gecoacht. Er war noch nie "Mister", wie die Italiener Trainer nennen, seit die Engländer den Fußball zu ihnen brachten. Keine Minute. Er hat überhaupt erst den kleinen Trainerschein erworben, für die Serie C, dritte Liga. Doch als ihn Juventus Turin vor einer Woche als neuen Übungsleiter seiner U-23-Mannschaft vorstellte, tat der Verein das mit verdächtig viel Pomp. Da war wohl schon viel mehr im Schwange, die ganz große Nummer, ein Wagnis aus Verzweiflung.

Andrea Pirlo ist nun also Trainer der ersten Mannschaft des Serienmeisters aus Turin, aus dem Stand, mit einem Sprung. Nach dem Aus gegen Olympique Lyon, im Achtelfinale der Champions League schon, ging alles sehr schnell. Musste wohl. Cristiano Ronaldo, mit seiner Strahlkraft so etwas wie der oberste Markenträger des Unternehmens, drohte gar nicht mal so unverhohlen damit, den Klub zu verlassen, weil der zu klein im Geist sei, zu schwach in den Ambitionen, einfach viel zu wenig für einen wie ihn. Der Businessplan wankte.

Und so entließ Juve am Samstag zunächst Maurizio Sarri, den ungeliebten und unverstandenen Trainer einer einzigen Saison, nervös vom ersten Tag an, und berief nur wenige Stunden später schon Pirlo: 41 Jahre, dichter Bart, melancholisches Lächeln, eine Eleganz aus einer anderen Zeit. Juve setzt auf das vielleicht völlig verwegene Versprechen, dass der Maestro die Schönheit seines eigenen Spiels reaktivieren und reproduzieren kann, fortsetzen und fernsteuern von der Seitenlinie.

Pirlo hat 2017 mit dem aktiven Fußball geschlossen. Seinen Abtritt beging man in Bronx, im halb leeren Yankee Stadium, nach drei Jahren Pensioniertenfußball in der Major League Soccer beim New York City FC. Das war nicht standesgemäß für einen, der 116 Mal für die italienische Nationalmannschaft gespielt hatte, den Helden von Berlin, Weltmeister 2006.

Auch als Pirlo in New York spielte, riss die Verbindung nach Turin nie ab

Groß geworden war Pirlo einst beim AC Mailand, seiner Herzensadresse, da machte man ihn zum Regisseur vor der Verteidigung, dem Paradeaufbauer, dem Zeitengeber. In Italien beherrschte die Tempi dieses Sports niemand so leicht wie Pirlo, kurz oder lang, schnell oder langsam, alles wirkte immer natürlich. Und er war nie aufgeregt, auch im ärgsten Sturm, scheinbar gefangen im übervölkerten Mittelfeld, verlor er dieses noble Phlegma nicht. Pirlo hatte immer "una faccia un po' così", wie die Italiener sagen, wenn sie ein Gesicht ohne Regung meinen, ohne Gefühlsmanifestationen. Es konnte auch arrogant wirken, dabei drückte es vor allem Beherrschung aus.

2011, als Milan ohne ihn zu planen begann, holte ihn Juve zu sich. Pirlo war damals, mit 32, tatsächlich umsonst zu haben, ein Geniestreich. Vier Mal wurde er Meister mit den Turinern, der Treuebruch war schnell vergessen. Mehr noch: Er wuchs hinein in die juventinische Familie, freundete sich mit den Agnellis an, und auch als er in New York war, riss die Verbindung nie ab. Seine Wohnung im Zentrum von Turin, die Villa vor der Stadt, er behielt sie.

Als er dann in die Heimat zurückkehrte, ließ er sich von Sky Sport überreden, den Experten zu geben, wie das so viele andere Glorien von früher tun. Doch dieses öffentliche Reden liegt ihm nicht. Mögen seine Kameraden auch sagen, Pirlo sei im Privaten geistreich und lustig: Am Fernsehen hatte er immer eine "faccia un po' così". Als man ihn einmal fragte, ob er denn nicht Trainer sein wolle, sagte er, nein, das interessiere ihn nicht. Dann aber schrieb er sich in Coverciano ein, der Ausbildungsstätte des italienischen Fußballverbands und fand Gefallen. "Dass das doch etwas für mich sein könnte, merkte ich, als ich in der Nacht nicht einschlafen konnte und im Kopf Spieler auf dem Platz herumschob", sagte er neulich.

Als Modelle dienen Zidane und Guardiola

Nun erwarten ihn viele schlaflose Nächte. Spielen ist ja nicht dasselbe, wie Spieler verwalten, motivieren, richtig einsetzen. Wird Pirlo da nicht verbrannt? "Möge der Fußballgott seiner Seele beistehen", schreibt eine Zeitung.

Bei Juve halten sie ihn für einen Prädestinierten, wie kann es auch anders sein. Als Modelle dienen Zinédine Zidane, Trainer von Real Madrid, mit dem man in den vergangenen Wochen einmal lose gesprochen hat, und natürlich Pep Guardiola, Coach von Manchester City. Auch bei ihnen spielt die Aura ihrer Aktivjahre eine entscheidende Rolle, in der Umkleidekabine wie bei der Anhängerschaft. Ronaldo & Co., so nimmt man auch in Turin an, lassen sich von einem wie Pirlo mehr sagen als von Sarri, dem frühen Bankangestellten. Die zwei großen Vorbilder haben ihr Metier allerdings stufenweise erlernt, über Assistenzen und im Nachwuchs: Zidane bei Real Madrid Castilla, Guardiola bei Barça B.

Pirlo soll sofort groß sein und mit Juventus Turin nicht nur die zehnte Meisterschaft in Serie gewinnen, das ist das Mindeste, und wenn immer möglich sofort Europa erobern. Sondern er soll der Mannschaft dabei einen "europäischen Fußball" beibringen, etwas Modernes, Chorales, schön zum Anschauen. So, etwas schwammig mysteriös, lautet die Formel. Gemeint ist wohl: Dominanz über Ballbesitz, Aufbau mit dem Leder am Fuß, Spektakel in der Offensive. Wofür Pirlo steht, ist nun mal ein Rätsel. Wahrscheinlich weiß er es selbst noch nicht so genau.

Die Mannschaft soll umgebaut werden, um CR7 und Paulo Dybala herum, die offensive Kreativzentrale. Viele werden wahrscheinlich gehen: Gonzalo Higuaín, Sami Khedira, Blaise Matuidi, Miralem Pjanic ist bereits weg. Der Brasilianer Arthur vom FC Barcelona ist schon verpflichtet, das erstaunliche schwedische Jungtalent Dejan Kulusevksi auch, als Mittelstürmer ist der Pole Arkadiusz Milik vom SSC Neapel im Gespräch, für den rechten Flügel Federico Chiesa von Fiorentina - und für die Regie vor der Abwehr Sandro Tonali von Absteiger Brescia, den man in Italien gerne mit Pirlo vergleicht. Auch wegen Äußerlichkeiten.

Hinten bleibt vieles gleich. Die "Senatoren" des Vereins, so hört man nun, Gianluigi Buffon, Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci also, sollen am stärksten auf Pirlo gedrängt haben. Alte, dicke Freundschaften. Passt das? "Und ich muss dich jetzt also 'Mister' rufen!?!?!", twitterte Buffon am Wochenende. Alle vereint in Nostalgie.

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Torino 07/08/2020 - Champions League / Juventus-Lione / foto Image nella foto: Cristiano Ronaldo PUBLICATIONxNOTxINxITA

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