Personalie:Stur in den Wirbelsturm

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Frankreichs Trainer Roger Lemerre steht kurz vor der Ablösung.

Ralf Itzel

(SZ vom 12.6.02) - Den Blick nach oben, irgendwo in die Ferne gerichtet, beendete Roger Lemerre mit warmen Worten die Ansprache, die seine letzte als französischer Nationaltrainer gewesen sein dürfte. Den beiden Gastgeberländern wünschte er den Sprung ins Achtelfinale, und der WM schöne Spiele, denn "der Fußball dreht sich weiter, auch nach dieser Episode im Leben der Blauen". Lemerre, 60, schloss mit einem "danke für Ihre Freundlichkeit". Angesprochen fühlen durfte sich, wer wollte. Dass er selbst nicht immer nett mit den Medien umging, wird seine Position im Wirbelsturm der kommenden Tage nicht festigen. Nach der größten Blamage eines Titelverteidigers in der WM-Geschichte wetzen Frankreichs Journalisten die Federn.

Frankreichs Nationaltrainer Roger Lemerre (Foto: N/A)

Nun, da der selbstherrliche Coach von seinem hohen Ross auf den Hosenboden gefallen ist, können sie ihm endlich unter die Nase reiben, was tabu war, solange die Mannschaft siegte: Dass er auf die Alten setzte und den Generationenwechsel nicht vorbereitete, dass er stur an seinem 4-2-3-1-System festhielt, obwohl "der Überraschungseffekt nicht mehr da war", wie Bixente Lizarazu analysiert. Lemerre selbst signalisierte vor dem Turnier seinen Rücktritt im Falle des Unfalls, alles andere würde die französische Öffentlichkeit jetzt auch nicht goutieren. Als idealer Nachfolger dürfte Arsène Wenger von Arsenal London gehandelt werden, ein Prototyp des jungen, weltmännischen Managers. Auch Jean Tigana, einer der Helden der Generation Platini, könnte ein Kandidat sein für den Neubeginn.

Eine Erneuerung steht an

Der große Schnitt in der Mannschaft wie nach der WM 1986 wird aber nicht folgen. Damals trat Michel Platini samt Gefolgschaft zurück, Zidane jedoch bleibt. Sein Freund Christoph Dugarry (30) sowie Youri Djorkaeff (34) dürften als Einzige aus der Abteilung Offensive einpacken. Eine Baseballkappe mit seiner Nummer 6 tief ins Gesicht gezogen, verließ der frühere Lauterer gestern fast unerkannt die letzte große Bühne seiner Laufbahn. Trezeguet und Henry aber sind gerade mal 24, und der gestern eingewechselte Flitzer Djibril Cisse (20) zeigte eindrucksvoll, dass die nächste Angreifer-Generation schon in den Startlöchern scharrt.

Erneuern werden die Franzosen die Abwehr, deren Mitglieder zum Großteil jenseits der 30 sind. Lizarazu (32) ließ seine Zukunft gestern noch offen. Dass Kapitän Marcel Desailly (33) vor dem zweiten Gegentor auf dem Bauch landete, hatte Symbolwert. Der gebürtige Ghanaer wird die Binde an Zidane weitergeben, der vom Regisseur endlich auch zum Anführer reifen muss. Persönlichkeiten wie Deschamps und Blanc, die bei den erfolgreichen Turnieren '98 und 2000 auch mal Spiele herumrissen, vermissten die Blauen diesmal schmerzlich.

Nachwuchs von der gesunden Basis

An guten Jungen, die Zidane in der Qualifikation für die EM 2004 flankieren können, ist kein Mangel. Die Equipe wird schnell Schwung holen können, denn die Basis ist dank der visionären Nachwuchsarbeit gesund. Zweifelhaft, dass das auch für die Fankultur gilt.

Die Blauen anzufeuern wurde bei der WM im eigenen Land zur Massenmode, die Anhängerschaft wuchs nicht organisch. "Wir sind kein klassisches Fußballland", warnte Platini einmal. Wie viele der Anhänger werden nach dick auch durch dünn gehen? Der französische Alltag kündigt sich grau an.

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