Da muss sie jetzt ein bisschen überlegen. Seit gut zehn Jahren hat sie nun mit dem Balken zu tun. Sie steht, läuft, tänzelt, dreht, springt und überschlägt sich auf einem zehn Zentimeter breiten und fünf Meter langen Streifen, 1,20 Meter über dem Boden. Es ist für Pauline Schäfer so selbstverständlich geworden, fast täglich darauf zu üben und alle paar Wochen einen Wettkampf zu bestreiten, dass sie erst mal darüber nachdenken muss, was wirklich faszinierend ist am Schwebebalken. Dann sagt sie: "Oben zu bleiben."
Job zu einer Kunst gemacht
18 Jahre ist sie nun alt, sie war also noch nicht auf der Welt, als Julia Stratmann vor 21 Jahren als bislang letzte Deutsche bei einer Weltmeisterschaft in einem Schwebebalkenfinale stand. Einfach oben zu bleiben, das ist verkürzt gesagt, der Grund, warum es die Deutschen so lange nicht mehr geschafft haben. Der Balken birgt zwar eine vergleichsweise geringe Verletzungsgefahr, "blaue Flecken, nicht viel mehr" kann man sich holen, sagt die Bundestrainerin Ulla Koch. Aber man kann fast jederzeit herunterfallen, und dann stöhnt das Publikum auf, als hätte die Schülerin in einer einfachen Prüfung einen dummen Fehler gemacht. Alle Hoffnungen sind damit erledigt, deshalb hatten die meisten Deutschen traditionell Bammel vorm Balken, und deshalb sind sie dann auch heruntergefallen.
Turn-WM in Glasgow:Sorgen um den Superturner
Japans Kohei Uchimura ist so etwas wie die Schul-Vorlage für einen Turner - und er könnte den Sport noch Jahre dominieren. Bei der WM in Glasgow staunt das Publikum aber: Über einen Fehler.
Aber jetzt ist da die Saarländerin Pauline Schäfer, die seit drei Jahren in Chemnitz trainiert, der diese Anspannung offenbar Freude bereitet. Sonst wäre sie bei der WM in Glasgow kaum ins Balkenfinale am Sonntag eingezogen, noch dazu mit einer soliden Medaillenchance. Und dank ihres sicheren Auftretens auf dem Kantholz zu WM-Beginn steht sie wie Elisabeth Seitz im Mehrkampf-Finale am Donnerstag. Da kann sie unter die besten zehn kommen, sich im Wettkampf erproben und schon mal austesten, wie viel Risiko-Freude in Glasgow am Balken drin ist.
Wenn man mit Pauline Schäfer spricht, dann handelt eine Hälfte des Gesprächs von Schäfer und die andere Hälfte vom Schäfer-Salto. Den hat sie erfunden, und er erzählt einiges über die Turnerin. Etwas zu turnen, "was sonst keiner hat", ist neben dem Nervenkitzel wohl der andere Grund dafür, dass sie sich da oben wohlfühlt. "Ich bin gerne kreativ", sagt sie, "es macht mir Spaß, zu experimentieren." Die amerikanische Mannschaft, die am Mittwoch unter anderem mit sagenhaft schwierigen Balken-Elementen den Team-Titel verteidigte, ist deshalb so gut, weil sie Bestehendes übt und übt. Schäfer ist vielleicht so gut, weil sie ihren Job zu einer Kunst macht.
Am Schäfer-Salto hat sie ein Jahr lang getüftelt, seit zwei Jahren turnt sie ihn. Nun sitzt er fast vollständig, muss aber fortlaufend geübt werden, wozu sie zuletzt wegen des Team-Wettkampfs nicht gekommen war. Als E-Element entspricht er der zweithöchsten Kategorie. Schäfer vollführt einen Seitwärtssalto mit halber Drehung. Beim Absprung sieht sie also den Balken vor sich, dann ahnt sie ihn über sich, ortet ihn dann neben sich, denn sie dreht sich halb um die Längsachse - und steht bei der Landung schließlich quer. "Einen Moment zu früh oder zu spät gedreht, und du bist weg", sagt sie.
Mit dem Schäfer kann sie den entscheidenden halben Punkt zusätzlich holen, vorausgesetzt, sie turnt weiterhin so flüssig wie in der Qualifikation. Dieses Niveau hat sie erreicht, weil sie sich schon als Schülerin am Stützpunkt Saarbrücken mit dem Gerät angefreundet hat, und weil sie in Chemnitz bei Trainerin Gabriele Frehse ihre Schwäche überwand. Schäfer hatte nach Stürzen auf den Kopf eine Blockade vor Rückwärts-Salti: "Ich habe mit 16 meinen ersten Doppelsalto gemacht", sagt sie.
Turn-WM in Glasgow:Perfekte Spannung
Bei der Turn-WM vereinen sich Sport und Ästhetik, Technik und Kraft. Impressionen aus Glasgow.
Sport ist eben oft auch ein Irren und Neu-Lernen, vielleicht besonders im Turnen, und vor allem am Balken. Zur Eindämmung des deutschen Stürzens hatte der Verband 2013 die kanadische Spezialistin Carol-Angela Orchard engagiert. Die hat dann mit einigen Irrtümern im Training aufgeräumt, etwa dem Glauben, der Balken erfordere ständige Balance-Übungen. Die Turnerin habe ja zehn Zentimeter zur Verfügung, und wenn sie alles richtig mache, sagt Koch heute, dann braucht man auch nichts auszubalancieren. Nach Orchards Tipps schaut auch Schäfer fortwährend auf den Balken oder ortet seine Position, wenn er vor ihr, über ihr oder neben ihr ist. Das Motto, das die Schülerinnen nun ständig hören, heißt: "See the beam!"
Pauline Schäfer behauptet von sich nicht, dass sie am Ziel sei, aber sie ist schon recht weit gekommen in ihrer Laufbahn. Womöglich trägt sie auch dazu bei, dass weitere Turn-Schülerinnen Interesse an diesem widersprüchlichen Gerät entwickeln, das Grazie und Kontrolle zugleich verlangt. "Ich will dem Nachwuchs zeigen, dass das ein gutes Gerät ist", sagt sie.
Zu Beginn der Übung, für den Aufstieg, hat Schäfer auch ein Element geschaffen, sie springt rückwärts in den Spagat. Aber das ist nur ein B-Teil, sagt sie, eine kleine Kreation, nicht weiter der Rede wert.