Fußball in Frankreich:PSG droht ein dramatischer Wettlauf

Coupe de France - Final - Paris St Germain v AS Saint-Etienne

Mais non! Kylian Mbappe ist bei PSG verletzt.

(Foto: REUTERS)

Vier Monate Lockdown, jetzt die Chance auf fünf Titel: Das verrückte Jahr von Thomas Tuchel bei Paris Saint-Germain setzt sich beim Pokalsieg fort - doch die Sorgen um Mbappé sind groß.

Von Moritz Kielbassa

Es lief die 78. Spielminute, als die Fernsehregie vom Rasen wegblendete, weil sich unten in den Katakomben des Stade de France Spannenderes zutrug. Man sah Kylian Mbappé den Kabinengang entlangkommen, er humpelte an Krücken, und am rechten Fuß hatte er eine Schiene angeschnallt, die wie ein Skischuh aussah. Draußen auf der Ersatzbank hat er dann gelächelt, nach den Tränen zuvor funkelten seine Augen wieder zwischen der Schutzmaske und seiner selbstsicher mit "KM" bedruckten Baseballmütze.

Und als das Pokalfinale gegen St. Etienne 1:0 gewonnen war, nutzte der junge Weltmeister seine Gehhilfen sogar kurz zum Hopsen und Feixen. Doch der Sieg geriet zur Nebensache, die Schlüsselfrage lautete: Wie schlimm hat es Mbappé erwischt? Fällt er aus für Lissabon? Für das Finalturnier der Champions League (ab 12. August) um jenen Henkeltopf, der für Paris Saint-Germain das Maß aller Dinge darstellt?

Am Tag danach gab der Verein eine Mini-Entwarnung: keine Knöchelfraktur, aber eine schwere Verstauchung des Fußgelenks. Dieser ersten Diagnose aus der Klinik folgen weitere Untersuchungen, erst dann ist absehbar, wie lange Mbappé, 21, fehlt. Tendenz: Bis zum Viertelfinale in Lissabon wird es ein Wettlauf gegen die Zeit, allein die neuerliche Trainingspause ist nach der langen Zwangsunterbrechung im Frühjahr für den Topscorer ein Fiasko. Ein möglicher Vertreter, der Sturm-Krieger Edinson Cavani, hat PSG bereits verlassen.

Für Thomas Tuchel war es also ein Pokalsieg mit Kummer, denn auch wenn dem Trainer diese Zuspitzung im Corona-Ausnahmesommer nicht gefällt: Im August heißt es für PSG hopp oder top, trotz aller Umstände. Champagner oder Selters, Triumph oder wieder Tinnef. Falls die Mission in Portugal misslingt, wird wohl niemand fragen, wer verletzt ausfiel, und keiner wird fair in Rechnung stellen, dass Paris in Lissabon auf Gegner trifft, die im Saft intensiver Wettkampfpraxis stehen, während Tuchel sein Team drei Monate nicht gesehen hatte, von Spielbetrieb ganz zu schweigen. PSG, dieses sündhaft teure Ensemble, soll endlich liefern in Europas Königsklasse, am besten den Pott zum Eiffelturm bringen. So sieht das ganz Paris.

Tuchel, 46, hat sich auf diese Fallhöhe und auf die Faszination dieses für Trainer ebenso schwierigen wie reizvollen Klubs eingelassen. Seit er 2018 in Paris ankam, ist klar: Er kann alles gewinnen mit diesem Kader voller Hochbegabung und mit den beiden Turbosportskanonen, Neymar und Mbappé, deren gut getuntes Zusammenspiel der größte PSG-Trumpf ist. Thomas Tuchel könnte nun in kürzester Zeit in einer Serie von Endspielen Trophäen stapeln. Nach seiner zweiten Ligue-1-Meisterschaft, jetzt diesem Finalsieg in der Coupe de France sowie dem Gewinn des französischen Supercups kann bereits am Freitag gegen Lyon der Ligapokal hinzukommen - ergäbe ein nationales Quadruple. Und Lissabon böte dann sogar eine Quintuple-Option. Sonnenklar ist aber auch: Dort ein Viertelfinal-Aus gegen den gefährlichen Außenseiter Bergamo, dann wären alle nationalen Titel Schnee von gestern.

Wie schwer hat sich Mbappé bei PSG verletzt?

Groß ist daher die Sorge um den lädierten Unersetzlichen. "Es hat ein bisschen geknackt", sagte Mbappé bei der Siegerehrung zu Emmanuel Macron. "Glaubst du, dass etwas gebrochen ist?", fragte der Staatspräsident. "Ich glaube nicht", ahnte Mbappé richtig. Tuchel tanzte zwar fröhlich mit den Spielern auf dem konfettiberegneten Podium. Aber das Hauptthema war Mbappés Wunde: "Ich weiß nicht, was ich sagen soll", sagte Tuchel, "alle, die dieses Foul gesehen haben, sind beunruhigt." Le Figaro titelte: "Paris hat Angst!"

Besorgt sein, das musste Tuchel vor der eigenartigen Kulisse von 5000 erlaubten Zuschauern ab der ersten Minute. Die Gegner von AS St. Etienne, giftgrün gekleidet, zeigten eine grenzüberschreitende Gegenwehr, wie sie den Pariser Feinfüßlern in Frankreich häufiger begegnet. Neymar erhielt seinen Willkommensgruß von Yvann Macon, Stollen auf Knöchel, nach 62 Sekunden.

Der deutsche Nationalspieler Thilo Kehrer, bei Tuchel rechts hinten fest eingeplant nach dem Dortmund-Wechsel von Thomas Meunier, musste mit Hüftschmerzen früh vom Feld. Und dann senste AS-Kapitän Loic Perrin den in Höchstgeschwindigkeit enteilenden Mbappé um, wobei dessen rechter Fuß unter der beidbeinigen Schere des Gegners komplett umknickte. Ein übles Foul, eine Blutgrätsche reinsten Wassers. Bei der folgenden Rudelbildung kam es zum regen Austausch von Aerosolen, Perrin sah nach Videobeweis Rot.

"Der Schiedsrichter hat unsere Spieler nicht genug geschützt", monierte Tuchel dennoch. Fußball gespielt hat PSG in diesem Finale, wie so oft in dieser Saison: sporadisch mit starken Tempoangriffen, wie beim 1:0 (14.), als Mbappé noch fidel war und nach Doppelpass mit Di María wie ein Düsenjet abzog, woraufhin Neymar abstaubte. Alle weiteren Großchancen ließ man aber liegen, spielerisch war noch viel Sand im Getriebe. Und obwohl die PSG-Künstler 2020 Fortschritte beim solidarisches Verteidigen zeigen, hatten sie hinten auch wieder ein paar Zittermomente.

Die Pariser sind immer zu allem fähig. Sie können die Sterne vom Himmel spielen oder im Marianengraben landen, wie 2019, bei Tuchels bitterster Niederlage, dem Sudden Death in der Königsklasse gegen Manchester United, das auf absurde Weise in Paris 3:1 siegte. Neymar, der schon bei so vielen wichtigen Spielen verletzt war, verpasste auch dieses Drama. Seine und Mbappés Gesundheit, das ist die ewige Achillesferse von PSG.

Das Déjà-vu, erneut schon im Achtelfinale zu crashen, verhinderte Paris kurz vor Corona, gegen Borussia Dortmund. Für Tuchel war dieses Duell mit seinem Ex-Klub, den er 2017 trotz Erfolges unherzlich verlassen musste, ein Showdown-Szenario. Das Hinspiel beim BVB: 1:2, Paris nicht gut, seltsam passiv. Und vor dem Rückspiel: alle Vorzeichen negativ! Neymar nicht im Rhythmus, etliche Stammspieler gesperrt oder angeschlagen, die Defensive wirkte wacklig, dazu Berichte über ein angeblich mieses Betriebsklima oder über Nebengeräusche wie von Mbappé, der nach einer Auswechslung von Tuchel herumzickte.

Selbst Neymar grätschte am eigenen Strafraum

Kurz vor dem Spiel war Mbappé dann so halskrank, dass er auf Covid-19 getestet wurde. Und dann auch das noch: Geisterspiel, der Prinzenpark leer. Tuchel ging in diesen Tagen Anfang März in den längsten Tunnel der Welt, er ignorierte jeden und jedes andere Thema, er war nur darauf fokussiert, dieses eine Spiel zu gewinnen.

PSG gewann. Es war ein staubtrockenes, kompakt durchverteidigtes 2:0, das für Tuchel nach all den Widrigkeiten mehr Wert war als ein 5:0 mit Glanz und Gloria. Am Spieltag redete er der Truppe ein, dass "dieser ganze Mist" diesmal vorher passiert sei - und im Spiel sich alles zum Guten wenden werde. Tuchel sah sich durch das 2:0 bestätigt in seinem Ansatz für diese Gruppe großer Egos, die begreifen müssen, dass der Weg zur Champions-League-Krone selbst für die virtuosesten Solisten nur über orchestrierten Fleiß führt.

Gegen den BVB sah Tuchel Neymar am eigenen Strafraum grätschen. Er selbst lässt taktisch in diesem Jahr sogar heilige Trainergewohnheiten ruhen. Tuchel definierte sich immer auch dadurch, flink und flexibel zu reagieren, Gegner auszucoachen, den Matchplan zu ändern, ein Spiel mit Personal- und Systemwechseln zu beeinflussen, auch mehrmals. Seit Dezember jedoch lässt er Paris in einem lupenreinen 4-4-2 spielen. Immer, gegen jeden.

Dadurch kann er von seinen vielen Offensivgrößen jetzt vier statt drei aufstellen, zwei im Sturm, Mbappé und Icardi, zwei außen, Neymar und Di María. Letztere heißen nun offiziell "Mittelfeldspieler", was sie verstärkt zu defensiver Mitarbeit ermuntern soll. Im Spielaufbau sind feste Muster verabredet, nur eine begrenzte Zahl der Defensiven darf mit nach vorne ausbrechen, eine seriöse Restverteidigung soll die Konteranfälligkeit senken. Zudem war die Festlegung auf 4-4-2 ein pädagogischer Kniff. Geht ein Spiel schief, kann keiner mehr sagen, es habe an einem falsch gewählten System gelegen. Ob es gut läuft oder schlecht, darüber entscheidet jetzt allein die Performance des Teams.

Tuchels Herausforderungen sind weiterhin vielfältig. PSG ist ein aufgeregter, glamouröser, neureicher Verein, den der Rest der Welt nicht mag, denn die Scheichs im Hintergrund stehen sinnbildlich für die Turbokommerzialisierung des Fußballs. Es gibt immer maximalen Druck, weil die Eigentümer aus Katar ihr Investment jenseits der Milliardengrenze belohnt sehen wollen. Die Transferpolitik bestimmt nie der Trainer allein, und dass der Sportchef, der Brasilianer Leonardo, speziell ist, das haben beim Kauf von PSG-Spielern zuletzt auch die Bayern und der BVB erlebt.

Mit Argusaugen wird zudem beobachtet, wie Tuchel mit seinen Diven umgeht. Er ist kein Jupp Heynckes, er kann nicht mit der Souveränität eines Siebzigjährigen moderieren. Er sucht seinen Weg, er nennt es "Bindung auf meine Art": mal lange Leine, mal kurze; gewisse Prinzipien strikt einfordern, aber auch mal Spinnereien durchwinken. Es kann Tuchel nicht gefallen, wenn die Mannschaft vor einem Spiel eine pompöse Geburtstagsparty veranstaltet. Er kann das aber auch so sehen: Sie feiern zusammen, sie stehen zusammen - und sie wollen auch zusammen siegen. Er muss das wahrscheinlich sogar so sehen.

Nach dem 2:0 gegen Dortmund war es in einem Sky-Interview aus Tuchel rausgesprudelt. Er hat sich lustig gemacht über all die Berichte, dass ihm sein Laden auseinanderzufliegen drohe. Er hat da ein völlig anderes Gefühl. Er glaubt, dass die Spieler den großen Wurf wollen, und dass einige ihren Motivationsregler am besten selbst bedienen können. Auf Neymar, den er "Ney" nennt, sei in großen Spielen zu 100 Prozent Verlass, glaubt Tuchel.

Direkt nach der Kabinenfeier des Dortmund-Siegs hieß es jedoch abrupt: Rien ne va plus - nichts ging mehr. Die Spieler, die im Lockdown in alle Welt flogen, kehrten erst im Juni zurück. Tuchel wollte nicht ausreisen, er blieb mit Frau und Töchtern im privilegierten Hausarrest in Paris, nur Co-Trainer Arno Michels kam manchmal zum Videoabend. Der Saisonabbruch in Frankreich traf Tuchel unerwartet, auf den Meistertitel stieß er im Wohnzimmer an, vermutlich mit einem Gin Tonic.

In dieser Zeit der totalen Stille, in der PSG nicht mal Hometraining koordinieren durfte, während andere längst wieder kickten, da war Tuchel dank dieses Dortmund-Siegs mit sich im Reinen. Ein Aus hätte schwer an ihm genagt, nicht nur, weil es ihn womöglich den Job gekostet hätte. Tuchel, der vom Typ her eher ein alles Hinterfragender ist als ein Unbeirrter, hätte ein Scheitern in diesem Spiel sehr persönlich genommen. Diese zähe Grübelaufgabe blieb ihm in der Corona-Pause erspart.

Und jetzt, wo nach der Stille plötzlich eine wilde Endspieljagd begonnen hat? "Wir werden bereit sein", hatte Tuchel schon im April versichert, als noch völlig unklar war, wann es weitergeht. "Wir sind bereit", betonte er nun auch vor dem 1:0 gegen St.Etienne. Ob er am 23. August, dem Finaltag in Lissabon, dann auch sagen kann: "Wir waren bereit" - das könnte unter anderem von Kylian Mbappés Knöchel abhängen.

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