Eröffnung der Paralympics:Ein Forum für Menschenrechte

Eröffnung der Paralympics: Die paralympische Flamme brennt im Olympiastadion von Tokio.

Die paralympische Flamme brennt im Olympiastadion von Tokio.

(Foto: Yasuyoshi Chiba/AFP)

Trotz Masken und Einschränkungen: Zum Auftakt der Paralympics ist den Athletinnen und Athleten die Freude anzusehen. Im Gastgeberland Japan werden sie wohl keine Euphorie auslösen - doch im Mittelpunkt steht ohnehin etwas anderes.

Von Thomas Hahn, Tokio

Es waren gute Stunden im Nationalstadion von Tokio. Die Menge des Paralympia-Sports zog ein. Fahnen und Kostüme leuchteten im weiten Rund. Später erzählten Tänzerinnen und Tänzer aller Klassen eine Geschichte von der Entdeckung der Kraft. Die Nacht war voller Musik und Bewegung. Es wurde laut, dann wieder leise, nie kitschig. Alle Menschen in der Arena, die Rollstuhlfahrer, Amputierten, Sehbehinderten, Zweibeinigen oder anderweitig Bemerkenswerten durften sich mal zum Rock 'n' Roll, mal zur Nachdenklichkeit aufgefordert fühlen. Japans Kaiser Naruhito eröffnete die Paralympischen Spiele, an denen diesmal 4403 Athletinnen und Athleten aus 161 Ländern teilnehmen, so viele wie nie. Und am Schluss brannte das paralympische Feuer. Der zweite Teil der Tokioter Sommerspiele hat begonnen.

Ein schöner Abend, ein erleuchtetes Stadion. Es könnte so einfach sein, die Stimmung der Menschen zu heben. Aber so einfach ist es eben doch nicht, und natürlich war auch die Eröffnungsfeier der Paralympics am Dienstagabend wieder geprägt vom großen Thema dieser Zeit. Leere Ränge, Masken in der Arena - es war nicht zu übersehen, dass es Japan nicht gut geht. Im Grunde war Nippons große Infektionswelle, die während Olympia einsetzte und weiter anhält, schon am Tag nach der Schlussfeier der Olympischen Spiele vor gut zwei Wochen gleich wieder das vorherrschende Thema. Dazu kamen heftige Regenfälle, die Teile des Landes überschwemmten und tödliche Schlammlawinen brachten.

Viele Krankenhäuser in Japan müssen wegen Überlastung Patienten ablehnen

Die hilflose Regierung um den rechtskonservativen Premierminister Yoshihide Suga verlängerte und erweiterte zuletzt den Corona-Notstand. Aber sie betreibt keine sehr weitsichtige Politik, deshalb ist das nationale Gesundheitssystem nicht gut vorbereitet auf die vielen Infektionen mit der ansteckenderen Delta-Mutante des Coronavirus. Viele Krankenhäuser im Land müssen wegen Überlastung Patienten ablehnen, und das Impfprogramm ist noch nicht so weit, als dass es das Land spürbar entlasten würde.

Die Paralympics? Mit Olympia freundeten sich viele Menschen in Japan erst an, als sie im Fernsehen die vielen Medaillen der Heimmannschaft sahen. Ob Japans Paralympia-Auswahl ähnliche Effekte erzielt? Sie ist die größte in der Geschichte des nationalen Para-Sports, mit 254 Athletinnen und Athleten auch die größte bei diesen Spielen. Aber einen großen paralympischen Schwung hat Japan in den vergangenen Jahren nicht ausgestrahlt. Der Inselstaat ist an einigen Ecken noch nicht sehr behindertenfreundlich. Vor fünf Jahren in Rio gewann die Mannschaft keine einzige Goldmedaille.

Und selbst wenn mit den Wettkämpfen von diesem Mittwoch an neue Siegeszüge beginnen - die Landsleute haben anderes zu tun, als im Fernsehen etwas anzuschauen, was sie sonst auch nicht angeschaut haben. "Es wäre schön gewesen, gute Leistungen in einer besseren Umwelt zu sehen", sagt Katsunori Fujii von der Non-Profit-Gesellschaft Japan Council on Disability. Aber so ist es nicht. "Die Sportler tun mir leid." Fujii hätte eine Verschiebung klüger gefunden.

Eine Verschiebung war nicht möglich. Jetzt oder gar nicht - es ist das gleiche Spiel wie bei Olympia. Aber immerhin drücken sich die Paralympics nicht um größere gesellschaftliche Themen herum. Geht ja auch gar nicht. Die Protagonisten der Spiele gehören zur größten Minderheit der Erde mit insgesamt 1,2 Milliarden Menschen oder 15 Prozent der Weltbevölkerung. Die Zahlen stammen aus einer Inklusionskampagne, die das Internationale Paralympische Komitee (IPC), andere Para-Sport-Verbände sowie diverse Organisationen wie die Internationale Disability-Allianz oder die Unesco vor den Paralympics unter dem Titel WeThe15 auf den Weg gebracht haben. Das wichtigste Ziel ihrer aufwendigen Öffentlichkeitsarbeit: "Die Diskriminierung gegen Menschen mit Behinderung zu beenden."

Das Thema ist riesig, gerade jetzt, wie der brasilianische IPC-Präsident Andrew Parsons findet. "In der Pandemie wurden Menschen mit Behinderung zurückgelassen, in verschiedenen Gesellschaft auf der ganzen Welt", sagte er dieser Tage, "jetzt, da es am wichtigsten ist, geben wir ihnen eine Stimme."

Beim Einmarsch der Nationen fehlte Team Neuseeland - aus Furcht vor dem Infektionsrisiko

Aber wegen Corona schweifen die Debatten immer wieder ab vom Sport und von den Menschenrechten. Zuschauer sind nicht zugelassen bei den Paralympics, Schülerinnen und Schüler im Rahmen einer Bildungskampagne des Organisationskomitees dagegen schon - Shigeru Omi, der leitende Coronavirus-Berater der japanischen Regierung, äußerte prompt seine Skepsis. Der Infektionsschutz liegt über allem, sogar mehr als bei Olympia, wie Seiko Hashimoto, die Präsidentin des Organisationskomitees Tocog, vor den Spielen sagte: Zum Beispiel werde das Testsystem "verstärkt". Beim Einmarsch der Nationen am Dienstag fehlte Team Neuseeland, weil Neuseelands Paralympisches Komitee das Infektionsrisiko fürchtete.

Dass die Kraft des Para-Sports Grenzen hat, spürt die Gemeinde nicht nur wegen Corona. Der erfolglose Hilferuf der afghanischen Taekwondo-Kämpferin Zakia Khudadadi war ein Zeichen gegen die Hoffnung. Sie und der Leichtathlet Hossain Rasouli hätten in Tokio für ihr Land starten sollen. Aber nach der Machtübernahme der Taliban führte kein Weg aus Kabul. Das IPC konnte nicht helfen. Beim Einmarsch trug ein Volunteer Afghanistans Fahne. Kein Trost.

Trotzdem, als Forum für Menschenrechte haben die Paralympics immer funktioniert. So wird es auch diesmal sein, die Menschen sind schließlich die gleichen. Die Eröffnungszeremonie war eine kraftvolle Feier mit vielen Farben und Körpern. Man konnte die Freude der Athletinnen und Athleten unter den Masken sehen. Und die Einschränkungen? Schrecken sie bestimmt nicht. Niemand kennt sich mit schwierigen Umständen so gut aus wie die Hauptfiguren der Paralympics.

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Mareike Miller (links), Michael Teuber

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