Süddeutsche Zeitung

Paralympisches Schwimmen:Verschnupfter Überraschungsweltmeister

Lesezeit: 3 min

Der Nürnberger Schwimmer Taliso Engel gehört nach seinem Sieg bei der Para-WM über die 100 Meter Brust auch bei den Paralympischen Spielen 2020 zu den Medaillenfavoriten.

Von Raphael Späth

Es war ein doch eher gequältes Lächeln, das Firdavsbek Musabekov bei der Siegerehrung dem Londoner Publikum präsentierte. Über die 100 Meter Brust hatte er wenige Minuten zuvor Silber geholt, die einzige Medaille für sein Heimatland Usbekistan bei der Para-Weltmeisterschaft in London Mitte September. Aber der 22-Jährige war nun mal als amtierender Olympiasieger von Rio in die britische Hauptstadt gereist, die 100 Meter Brust gelten als seine Paradestrecke, erst im Mai hatte er beim Weltcup in Singapur mit 1:05:78 Minuten eine persönliche Bestleistung aufgestellt. An diesem Tag aber sollte selbst diese Zeit nicht für eine Goldmedaille reichen.

Die bekam bei der Siegerehrung der 17 Jahre alte gebürtige Nürnberger Taliso Engel umgehängt. Völlig überraschend schwamm er dank eines starken Schlussspurts an allen etablierten Startern im Londoner Aquatics Center vorbei und schlug als Erster an. Für das deutsche Team war es der dritte WM-Titel des Abends, nachdem Elena Krawzow und Verena Schott ebenfalls Gold gewannen. "Ich habe überhaupt nicht mit der Goldmedaille gerechnet - wir alle nicht: Weder meine Bundestrainerin, noch meine Familie", sagt er.

Klar, die 100 Meter Brust sind seine Paradestrecke, allerdings hatte er sich erst zwei Wochen vor der Weltmeisterschaft eine Erkältung eingefangen. "Die Halsschmerzen habe ich relativ schnell wegbekommen", erzählt er, "allerdings hatte ich auch noch während der WM die ganze Zeit Schnupfen." Auf einen Start über die 400 Meter Kraul verzichtete Engel deshalb, es galt Kräfte zu sparen und sich voll auf die Bruststrecke zu fokussieren. Engel ist sehbehindert und startet in der Klasse SB13, was die am wenigsten beeinträchtigte Sehklasse aller paralympischen Startkategorien ist. Auf seinem linken Auge hat er noch eine Sehkraft von sechs bis acht Prozent, auf seinem rechten von drei bis vier Prozent. "Ich sehe nur noch am Rand vom Auge, in der Mitte sehe ich fast gar nichts mehr", sagt Engel. "Beim Schwimmen ist es dadurch extrem schwierig, vor der Wende den Abstand zur Wand einzuschätzen."

Trotzdem trainiert er in Nürnberg bei der SG Mittelfranken schon seit Kindheitstagen hauptsächlich mit nicht-behinderten Schwimmern. Bei den Deutschen Meisterschaften in seiner Altersklasse wurde er im Juni Sechster. "Die Konkurrenz im Para-Bereich ist in Deutschland nicht ganz so groß, deshalb nehme ich nur an zwei oder drei paralympischen nationalen Wettkämpfen pro Jahr teil", erzählt Engel. "Das restliche Jahr besteht aus nicht-behinderten oder internationalen Para-Wettkämpfen."

Die WM war die erste große internationale Meisterschaft seiner Karriere. Eigentlich hätte er sich schon zwei Jahre zuvor für die Titelkämpfe in Mexiko City qualifiziert, diese wurden dann jedoch aufgrund des verheerenden Erdbebens in den Dezember verschoben: "Dort konnte ich dann nicht mitfahren, weil ich nicht noch einmal so lange in der Schule fehlen konnte". Inzwischen hat er die Realschule abgeschlossen und möchte auf der Fachoberschule in Nürnberg sein Abitur machen. Dort lernt er mit anderen leistungssportorientierten Jugendlichen. "Wir haben Taekwondo-Kämpfer, Fußballer, Leichtathleten und Triathleten in der Klasse. Der größte Unterschied zu normalen Klassen ist, dass wir zweimal in der Woche Frühtraining haben", sagt Engel. Auch das Frühtraining absolviert er bei seinem Heimatverein. Bei Para-Wettkämpfen startet er hingegen für den TSV Bayer Leverkusen, mit dem er auch regelmäßig ins Trainingslager fährt.

Vor der WM reiste er mit dem deutschen Team zur Vorbereitung nach Lanzarote, die Erkältung bremste ihn dort jedoch aus. Umso gedämpfter waren die Erwartungen vor seinem Start über die 100 Meter Brust. "Ich war schon aufgeregt, habe mir aber nicht so viel Druck gemacht, weil ich mit der Einstellung ins Rennen gegangen bin, einfach mal zu schauen, wie es nach meiner Krankheit läuft", erzählt Engel. "Nach dem Vorlauf habe ich vielleicht an einen dritten Platz gedacht, aber mit der Goldmedaille habe ich nicht gerechnet."

Mit 1:05:20 Minuten unterbot er seinen deutschen Rekord noch einmal, eigentlich hatte er erst in der kommenden Saison die 1:06:00-Minuten-Marke angepeilt. "Die Weltmeisterschaftszeit hat diese Planung natürlich komplett durcheinandergebracht", sagt Engel. Durch die Goldmedaille zählt er jetzt auch automatisch auch zum Favoritenkreis für die Paralympischen Spiele im kommenden Jahr in Tokio. Nach seinem Gold-Rennen im Paralympics-Becken von 2012 ist Taliso Engel auch in Japan alles zuzutrauen.

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Quelle:
SZ vom 27.09.2019
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