Paralympischer Sport:"Auf die falsche Art behindert"

Nations Cup Cologne Deutschland vs Spanien 10 08 2018 Barbara Gross Deutschland 15 Nations Cup

Bitterer Tag: Nationalspielerin Barbara Groß (rechts, mit Ball) bangt um die Fortsetzung ihre Karriere im Rollstuhlbasketball.

(Foto: Imago/Beautiful Sports)

Weltweit neun Rollstuhlbasketballer um die Deutsche Barbara Groß sind nach einer Klassifizierungsreform nicht mehr spielberechtigt. Manche wehren sich.

Von Sebastian Fischer

Immer wenn die deutsche Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft der Frauen in den vergangenen Jahren einen Erfolg feierte, war Barbara Groß dabei. Sie gewann Silber bei den Paralympics 2016, Bronze bei der WM in Hamburg 2018, ihr Ziel waren die Spiele in Tokio 2021. Doch laut einer Entscheidung der zwei wichtigsten Verbände in ihrem Sport, dem Internationalen Paralympischen Komitee (IPC) und dem Rollstuhlbasketball-Weltverband (IWBF), soll die internationale Karriere von Groß, 26, nun vorbei sein.

Auf die Mitteilung der IWBF, die am Mittwoch eintraf, hatten Athleten weltweit seit Monaten gespannt bis ängstlich gewartet. Es war die Mitteilung über die Ergebnisse einer neuen Klassifizierung, der Einordnung in verschiedene Grade von Einschränkungen, wie sie im Para-Sport üblich ist. Dabei ging es um Rollstuhlbasketballer mit sogenannten "Minimalbehinderungen", die neu begutachtet werden mussten. Von 132 Athleten wurden nun neun als nicht mehr teilnahmeberechtigt eingestuft, von zwölf deutschen eine: Groß.

Von einem "bitteren Tag" sprach Bundestrainer Martin Otto, von einer "spürbaren Schwächung". Die Gießenerin Groß spielt für die Universität Alabama in den USA, seit 2015 ist sie im Nationalteam. Sie ist die größte Spielerin im Kader, Otto beschreibt sie als verlässliche Verteidigerin. Mit dem Rollstuhlbasketball begann sie nach einem Verkehrsunfall und mehreren Operationen, nach denen Fußgängersport für sie nicht mehr möglich war - nähere Informationen dazu gibt es vom Deutschen Behindertensportverband (DBS) derzeit nicht, da der Verband prüft, Einspruch einzulegen. "Wir werden versuchen, mit einem erneuten Gutachten Klarheit zu schaffen", sagt Otto. 30 Tage bleiben dafür. Groß selbst will zum Thema deshalb noch nichts sagen. Andere Rollstuhlbasketballer sagten dagegen deutlich ihre Meinung.

Der Brite George Bates, einer der neun als nicht teilnahmeberechtigt Klassifizierten, schrieb in den sozialen Medien, dass er informiert worden sei, dass seine Behinderung - ein komplexes regionales Schmerzsyndrom, kurz CRPS - nicht die Kriterien des IPC erfülle. "Ich werde als ,auf die falsche Art' behindert erachtet", schrieb er. Das IPC, so sein Vorwurf, diskriminiere vorsätzlich. "Unglaublich. Ungerecht und unethisch", schrieb die deutsche Kapitänin Mareike Miller auf Twitter.

Hintergrund der Debatte ist ein Streit zwischen dem IPC, dem Dachverband des Para-Sports, und der IWBF. Ende Januar stellte das IPC den Platz einer der populärsten Behindertensportarten im paralympischen Programm in Frage. Rollstuhlbasketball sei für die Paralympics 2024 zunächst gestrichen. Auch der Platz im Programm für Tokio sei in Gefahr, sollten die Rollstuhlbasketballer nicht eine überfällige Reform der Klassifizierung einleiten.

Das IPC hatte 2015 ein neues Klassifizierungssystem beschlossen, das Behinderungen in zehn Gruppen einteilt, von geminderter Muskelkraft bis zu intellektuellen Beeinträchtigungen. Die IWBF hat dieses System als einziger Para-Fachverband noch nicht umgesetzt. Im Rollstuhlbasketball spielen Athleten mit verschiedenen Einschränkungen, von schwer bis gering, gemeinsam. Sie werden in Kategorien von 1,0 bis 4,5 unterteilt - je nachdem, welche Funktionen sie ausüben können, wenn sie in einem Rollstuhl sitzen. Insgesamt darf ein Team 14 Punkte aufs Feld bringen. Die am schwersten behinderten Ein-Punkt-Spieler können den Rumpf nicht kontrollieren; 4,5-Punkte-Spieler können den Rumpf uneingeschränkt bewegen.

Ein "herzzerreißender" Prozess

Es ging bei der neuen Klassifizierung im Kern um 4,5-Punkte-Spielerinnen wie Groß, die im Alltag keinen Rollstuhl benötigt, sondern zu Fuß geht. Es ging um die Frage, ob Spielerinnen wie sie eine Einschränkung nach Definition des IPC haben, um paralympische Athletinnen bleiben zu dürfen. Im Januar versetzte das IPC die Rollstuhlbasketballer in eine "Bedrohungslage", wie es IWBF-Generalsekretär Norbert Kucera formulierte: Zunächst mussten alle Athleten, die nach alten Kriterien mit 4,0 und 4,5 klassifiziert worden waren, erneut medizinische Gutachten einreichen, um sie von Klassifizierern von IPC und IWBF auswerten zu lassen.

Die Münchnerin Katharina Lang, ebenfalls 4,5-Punkte-Spielerin und Teamkollegin von Groß, sowohl im Nationalteam als auch in Alabama, schilderte vor ein paar Wochen, wie sich der Prozess aus Athletensicht anfühlte: "Herzzerreißend" - und "schwierig zu akzeptieren", dass die Entscheidung über die eigene sportliche Karriere in fremden Händen liege.

Anders als Groß war Lang früher Fußgängerbasketballerin, wie im Rollstuhlsport der gewöhnliche Basketballsport genannt wird. Ihr riss dreimal das Kreuzband, sie konnte keinen Basketball mehr spielen und wechselte zum Rollstuhlbasketball. Im Februar, mitten im Semester in den USA, reiste sie nach Deutschland, damit ihr Arzt mit neuen MRT-Aufnahmen Kraft und Stabilität ihrer Knie beschreiben konnte, um ihre Invalidität für Fußgängerbasketball erneut zu belegen. Dann kamen erst mal Corona und die Verschiebung der Paralympics, Fristen wurden verlängert.

Rollstuhlbasketball gilt auch deshalb als Vorzeigesportart für Inklusion, weil Athleten mitspielen dürfen, die im Alltag nicht behindert sind. Manche verteidigen deshalb das alte Klassifizierungssystem, andere wiederum haben Verständnis für das IPC. Die Bestimmung von "einheitlichen und sportartübergreifenden Teilnahmeberechtigungen an den Paralympics" sei "generell nachvollziehbar", sagt DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher. Inakzeptabel ist dagegen für viele der Zeitpunkt der Entscheidungen. "Menschen im laufenden paralympischen Zyklus von den Spielen auszuschließen, ist nicht hinnehmbar", findet Beucher: "Es kann nicht sein, dass die Sportler die Leidtragenden der Sprachlosigkeit zweier internationaler Verbände sind", hatte er im Juni gesagt, nach der ersten Mitteilung der IWBF zum Fortgang der neuen Klassifizierungen.

IWBF-Generalsekretär Kucera hatte zu Beginn des Jahres eingeräumt, dass sein Verband Fehler im Dialog mit dem IPC gemacht habe. Inzwischen scheinen sich die Verbände anzunähern. Dass Rollstuhlbasketball seinen Platz im paralympischen Programm verliert, ist eher unwahrscheinlich. Doch den neun leidtragenden Athleten könnte der Platz in ihrem Sport tatsächlich abhanden kommen.

Wie dramatisch das im Einzelfall ist, zeigt das Beispiel des Briten Bates. Seine Ärzte hätten ihm in der Vergangenheit die Option dargelegt, sein wegen CRPS schmerzendes Bein zu amputieren. "Aufgrund der heutigen Entscheidung des IPC, könnte ich gezwungen sein, auf diese herzzerreißende Alternative noch mal zurückzukommen", schrieb er. Zunächst werde er gegen den Entschluss klagen. Denn er will weiterspielen.

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