Süddeutsche Zeitung

Paralympics:Wenn Sport ein Luxusgut ist

  • Im Zentrum der Paralympics stehen Seriensieger aus Kanada oder Deutschland. Doch ihre Erfolge verzerren ein bisschen die Wirklichkeit.
  • Von weltweit einer Milliarde Menschen mit Behinderung leben 80 Prozent in Krisen- und Entwicklungsregionen.
  • Für sie ist Sport als Selbstverwirklichung ein Luxusgut.

Von Ronny Blaschke, Pyeongchang

Vor der letzten Kurve rutscht Elaheh Gholifallah aus der Loipe und stürzt. Schnell rappelt sie sich auf, rückt ihre rote Mütze zurecht, sticht ihre Skistöcke wieder kraftvoll in den Schnee. Kurz darauf ist die blinde Langläuferin aus dem Iran mit ihrer Begleiterin im Ziel. Fast neuneinhalb Minuten hat sie für die 1,5 Kilometer gebraucht, mehr als doppelt so lang wie die Gewinnerin. Elaheh Gholifallah belegt im Vorlauf den letzten Platz, doch Zahlen sind für sie nicht so wichtig. Sie hat es zu den Winter-Paralympics geschafft, nach einigen Minuten ist sie wieder bei Atem. Und kann sich freuen.

570 Athleten aus 49 Ländern nehmen in Pyeongchang teil, mehr als drei Viertel stammen aus Europa und Nordamerika. Im Zentrum stehen die Seriensieger, die Monoskifahrerin Anna Schaffelhuber aus Deutschland oder der Langläufer Brian McKeever aus Kanada. Doch ihre Präsenz verzerrt auch ein bisschen die Wirklichkeit. Von weltweit einer Milliarde Menschen mit Behinderung leben 80 Prozent in Krisen- und Entwicklungsregionen. Sport als Selbstverwirklichung? Für viele ein Luxusgut.

Aufstiege wie jener von Elaheh Gholifallah, 21, sollen dazu beitragen, dass die Weltspiele des Behindertensports ein wenig globaler werden. Mit fünf Jahren litt sie unter einer Gehirnerkrankung, seitdem ist sie blind. Sie wurde früh aktiv, ging klettern, probierte Rollerskating, lernte über Umwege das Nationale Paralympische Komitee im Iran kennen.

Erstmals gibt es auch Teilnehmer aus Ländern wie Georgien, Nordkorea oder Tadschikistan

Anfang des Jahres wurde die Englisch-Studentin dann nach Freiburg eingeladen, wo das Internationale Paralympische Komitee (IPC) einen seiner Workshops abhielt. Mit 50 Sportlern aus 13 Ländern spurtete sie durch den Schwarzwald, erst auf Rollerblades, dann auf Skiern. Sie nahm an Trainerseminaren teil und sah Filme über die paralympische Geschichte. Teilnehmer aus Georgien, Nordkorea und Tadschikistan erhielten eine Klassifizierung für Pyeongchang. Ihre Nationen sind nun erstmals bei Winterspielen.

Elaheh Gholifallah führte die iranische Delegation bei der Eröffnungsfeier mit der Fahne ins Stadion. Sie wollte nicht begleitet werden, sie erhielt die Richtungshinweise per Kopfhörer. Eine Medaille war für sie aussichtslos, aber vielleicht motiviert sie einige Landsleute zu mehr Bewegung. Sie sagt: "Das war mein größter Moment."

Für die Verwurzelung des Behindertensports jenseits der Industrienationen ist beim IPC seit ihrer Gründung 2008 die Agitos-Stiftung zuständig. Einer ihrer 13 Mitarbeiter, der Spanier Jose Gabo, eilt in diesen Tagen von Termin zu Termin, er möchte von den Komitees den Entwicklungsstand erfahren. Gabo hat Internationale Beziehungen studiert, er war lange für die Vereinen Nationen tätig. Und auch bei Agitos ist die Friedensbildung ein Teil seiner Arbeit, durch Parasport in Kolumbien, Sudan oder Ruanda: "Wir möchten, dass sich unsere Teilnehmer langfristig zum Sport verpflichten", sagt Gabo, "das Ganze soll nicht über Nacht wieder einstürzen."

Mit Blick auf Pyeongchang hat Agitos 500 Sportler, Trainer und Betreuer geschult. Das IPC kann von den Milliardeneinahmen des IOC nur träumen, dennoch kann seine Stiftung zumindest ein paar Dutzend Ausrüstungen für Schlittenhockey oder Ski Nordisch bereitstellen. Die Jahreskosten: 700 000 Euro, doppelt so viel wie vor zwei Jahren. Jose Gabo formuliert das Ziel, dass auch in Entwicklungsländern bald weniger Sportler von Technik abhängig sein soll. Monoskikosten wie jene von Anna Schaffelhuber in Höhe von 30 000 Euro aber bleiben Utopie.

Doch es muss auch nicht das Beste sein, findet Christian Ribera, mit 15 der jüngste Teilnehmer der Paralympics. Ribera wurde mit einer Gelenksteife in den Beinen geboren, er ist auf einen Rollstuhl angewiesen. 21 Operationen hat er hinter sich. Er sagt, der Sport habe ihm geholfen, eine Struktur in seinen Alltag zu bringen. Erst Schwimmen, dann Leichtathletik.

Bei einem Workshop des IPC fand Ribera Gefallen an Ski Nordisch. Er hat in seiner kleinen Ortschaft im Amazonas auf Rollerblades trainiert. In Pyeongchang hat er nun im Langlauf der sitzenden Klasse den sechsten Rang belegt. Nie zuvor war jemand aus Brasilien bei Winterspielen besser platziert, nicht bei Paralympics, nicht bei Olympia. "Irgendwann kann er eine Medaille gewinnen", sagt Gab.

Ab April wird Gabo seinen Schwerpunkt auf Tokio 2020 legen. In Afrika gibt es zehn Länder, die noch nicht an Sommerspielen teilgenommen haben. In der paralympischen Weltkarte ist also noch Platz.

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SZ vom 15.03.2018/tbr
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